Analyse: Japans Angst vor der Kernschmelze
Tokio/Berlin (dpa) - Als Japans Regierungschef Naoto Kan knapp sechs Stunden nach dem verheerenden Erdbeben den Atomalarm ausrief, war klar, wie ernst die Lage ist. Zwar waren die Kernkraftwerke in der Katastrophenregion wie bei Erdbeben üblich heruntergefahren worden, aber Nachrichten über einen Brand im AKW Onagawa und ein ausgefallenes Kühlsystem im Atommeiler Fukushima lösten über Japan hinaus Beunruhigung aus.
Wo war die Gefahr eines atomaren Unfalls besonders groß?
Besonders die Lage im Atomkraftwerk Fukushima war den ganzen Freitag über dramatisch, weil nach dem Beben die Kühlung ausfiel. Techniker schalteten ein Notkühlsystem ein, doch auch die dafür notwendige Notstromanlage fiel aus, so dass die Anlage nur noch über Batterien lief und die Kühlung weiter destabilisiert wurde. Nach Greenpeace-Angaben schauten Brennstäbe teils zwei Meter aus dem Wasser, weil zu wenig Kühlwasser nachgepumpt werden konnte. Experten sprachen vom einem „Station Blackout“. Trotz der vom Beben ausgelösten Abschaltung war es im Reaktorkern weiter sehr heiß - und ohne Strom funktioniert kein Sicherheitssystem mehr. In Fukushima wurden Tausende von Menschen in Sicherheit gebracht und Militär in die Region geschickt. Das AKW Daiichi-1 war 1971 ans Netz gegangen.
Wie bewertet das Ausland die Situation?
Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) betonte, dass dort „äußerstenfalls eine Kernschmelze“ droht. Dies könne bis zu drei Blöcke des AKW betreffen. „Das ist eine ernste Situation“, sagte Röttgen. Die japanische Regierung tue derzeit alles dafür, um die Notstromversorgung für das Kühlsystem in den Griff zu bekommen. Angesichts der weiten Entfernung und des angekündigten Wetters sei im Falle einer Kernschmelze für Deutschland nicht mit radioaktiver Strahlung zu rechnen. Die USA schickten Kühlmittel. Bei einer Kernschmelze erhitzen sich Brennstäbe so sehr, dass sie schmelzen, die Reaktorhülle zerstören und Radioaktivität nach draußen dringt.
Wie lange besteht diese Gefahr?
Am Abend hieß es erst, die Behörden würden das Kühlsystem des Atommeilers in den Griff bekommen und die Gefahr eines radioaktiven Unfalls bannen. Die Nachrichtenagentur Kyodo meldete jedoch unter Berufung auf die Betreibergesellschaft, dass die Radioaktivität in der Anlage steige. Angesichts der Vielzahl der Probleme in dem hoch komplexen System bestand die Gefahr, dass die Lage außer Kontrolle gerät. Der amerikanische Reaktorexperte Robert Alvarez sprach von einem „beängstigenden Rennen gegen die Zeit“. Die Leiterin des Bereichs Nukleartechnik beim Öko-Institut, Beate Kallenbach-Herbert, betonte, dass wegen des Tsunamis auch Kühlwasser aus den Flüssen wegen der Verschlammung wohl nicht mehr zur Verfügung stehe. Henrik Paulitz von der atomkritischen Ärzte-Organisation IPPNW sagte, weil Kühlwasser fehle, sei der Druck im Reaktor gestiegen. Wegen des Alters der Anlage sei mit austretender Radioaktivität zu rechnen.
Wie wird ein solcher Zwischenfall eingestuft?
Das Ereignis dürfte auf der Skala für nukleare Ereignisse (INES) mindestens als Störfall (Stufe 2) eingestuft werden - wenn es nicht noch zur Kernschmelze kommt. Die höchste INES-Stufe 7 wurde bisher nur beim GAU von Tschernobyl vor 25 Jahren erreicht.
Wie gefährlich war das Feuer im Atomkraftwerk Onagawa?
Dies scheint glimpflich verlaufen zu sein. Bisher gibt es dort keine Informationen über radioaktive Lecks. In Onagawa gibt es drei Reaktoren, die alle Siedewasserreaktoren sind. Dabei wandelt die bei der Kernspaltung im Primärkreislauf erzeugte Wärme das Wasser in Wasserdampf, der direkt die den Strom produzierenden Turbinen antreibt. Durch das Feuer bei den Turbinen wurde der Reaktor selbst nicht gefährdet, die Flammen konnten laut der japanischen Atomsicherheitsbehörde NISA nach einigen Stunden gelöscht werden. Da es keine direkte Trennung zwischen Primärkreislauf und Turbinen gibt, hätte der Brand aber dazu führen können, dass Radioaktivität über mögliche Schäden im Turbinengebäude nach draußen dringt.
Wie erdbebensicher sind deutsche Atomkraftwerke?
„Deutsche Kernkraftwerke sind gegen die bei uns zu erwartenden Erdbeben ausgelegt“, sagt Jürgen Maaß vom Umweltministerium. Die Anlagen würden beim Überschreiten bestimmter sicherheitsrelevanter Grenzwerte automatisch abgeschaltet - so wie es auch in Japan geschehen ist. Auch die Schweiz betont: „Die Kernkraftwerke sind so geplant, gebaut und nachgerüstet worden, dass sie auch schweren Erdbeben widerstehen können.“ In Deutschland gab es zuletzt 2007 einen Brand auf einem AKW-Gelände. Das Feuer in Krümmel hatte keinen Einfluss auf den Reaktor, es trat auch keine Radioaktivität aus. Aber infolge des Trafobrands kam es zu diversen Fehlern im Ablauf, der Meiler steht seitdem fast ununterbrochen still.
Was sagen Umweltschützer und die Opposition?
Sie betonen, die Vorfälle in Japan zeigten, dass Atomkraft unverantwortlich sei. „Die Befürworter der Atomenergie unterschlagen die Sicherheitsdimensionen“, sagt der frühere Umweltstaatssekretär und heutige Vorsitzende der Naturfreunde Deutschlands, Michael Müller (SPD). Es gehe nicht nur um die Eintrittswahrscheinlichkeit, die bei AKWs sehr gering sei. „Es geht, zumal in dicht bevölkerten Regionen, auch um den Schadensumfang“, sagt Müller. Die Linken-Politikerin Dorothée Menzer sagt: „Diese offensichtlichen Probleme in den vom Beben betroffenen Atomanlagen führen uns - nur wenige Tage vor dem 25. Jahrestag des Tschernobyl-GAUs - erneut auf dramatische Weise vor Augen, welche unbeherrschbaren Gefahren die Atomkraft birgt.“