Analyse: Juncker stärkt seine Rolle in der Flüchtlingskrise

Brüssel (dpa) - Beide sind Präsidenten, beide gehören in Europa zur konservativen Parteienfamilie. Jean-Claude Juncker, der EU-Kommissionschef, und Donald Tusk, mächtiger Chef der EU-Gipfel, haben eine Reihe von Gemeinsamkeiten.

Foto: dpa

Dazu gehört auch die Adresse: Rue de la loi im Brüsseler Europaviertel. Juncker hat die Hausnummer 200, Tusk residiert im klotzigen Ministerrat mit der Nummer 175.

Doch gibt es auch einiges, was die beiden EU-Spitzenvertreter trennt. Während der Luxemburger Juncker ein streitbarer Herzbluteuropäer ist, der auch aus persönlichen Enttäuschungen keinen Hehl macht, wirkt der gebürtige Danziger Tusk gelegentlich kühl und etwas distanziert.

Mit dem komplizierten und bisweilen glitschigen EU-Parkett ist der seit knapp einem Jahr amtierende Liberalkonservative Tusk viel weniger vertraut als EU-Veteran Juncker, der in mehreren Sprachen parliert und allein acht Jahre lang Chef der Euro-Finanzminister war.

Dafür bewies sich der frühere polnische Regierungschef als geschickter Stratege. So schaffte er es, die EU-Staaten bei der äußerst schwierigen Frage der Russland-Sanktionen auf Linie zu halten.

Der 60 Jahre alte Christsoziale Juncker versammelt am Sonntag im sternförmigen Berlaymont-Gebäude seiner Riesenbehörde eine Reihe von Staats- und Regierungschefs, um über die Flüchtlingskrise und insbesondere über die Balkanroute zu beraten.

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird erwartet. Nach Berliner Darstellung regte die CDU-Politikerin das Spitzentreffen bei Juncker an.

„Gipfel“ darf die für Brüsseler Verhältnisse ganz ungewöhnliche Runde nicht heißen, weil nur neun EU-Länder vertreten sind. Und Gipfel sind eben das Terrain des 58-jährigen Tusk. Üblicherweise kommen die „Chefs“ zu ihm, und nicht auf die andere Straßenseite, zu Juncker.

Europa erlebt die größte Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Angesichts der dramatischen Lage in vielen Mitgliedstaaten wird das Gezerre um Macht und Einfluss in der europäischen Schaltzentrale nicht thematisiert. Es ist zu hören, dass die Initiative Junckers von Tusk gut geheißen wird - ob er teilnehmen wird, ist aber offen.

Schon vor einer Woche berieten alle 28 Staats- und Regierungschefs bei Tusk über die Flüchtlingskrise. In der Juncker-Runde soll es nun vor allem um praktische Fragen wie Hilfe für besonders betroffene Länder wie Slowenien oder Kroatien gehen. Beide EU-Länder sind derzeit mit einem Ansturm Tausender Menschen konfrontiert.

Die chaotische Lage im Südosten des Kontinents macht vielen Sorgen. Ungarn riegelte seine Grenze zum Nicht-EU-Nachbarn Serbien ab und schloss auch die Grenze zu Kroatien. Slowenien setzt inzwischen Militär zu Grenzsicherung ein.

Ob es bei dem Krisentreffen nur um die Sicherung der Außengrenzen und bessere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten gehen wird, oder ob nicht doch wieder neuer Streit um die grundsätzliche Ausrichtung der Flüchtlingspolitik aufkommt, lässt sich kaum absehen. Einige warnen bereits davor.

So ist das Vorhaben, einen langfristigen Verteilmechanismus für Flüchtlinge zu vereinbaren, äußerst umstritten. Vor allem Deutschland und Schweden fordern ihn. Viele EU-Partner, auch im Westen des Kontinents, lehnen ihn jedoch ab. Ein fest vereinbartes Verteilsystem werde Menschen aus Syrien und anderen Krisenländern nicht davon abhalten, Kurs auf Deutschland und Schweden zu nehmen, meinen Insider.