Analyse: Kontinuität der Tabubrüche
Berlin (dpa) - Welche grundsätzliche Bedeutung hat die Entscheidung zu Waffenlieferungen in den Irak für die deutsche Außenpolitik? Darüber gehen die Meinungen weit auseinander.
Die Grünen sehen darin einen „gravierenden Paradigmenwechsel“. Die Bundesregierung wiegelt ab: Es handele sich um eine Ausnahme in einer Notfallsituation.
Ein Tabu bricht die große Koalition damit aber doch. Bisher galt die direkte Einmischung in eine kriegerische Auseinandersetzung mit gezielten Waffenlieferungen als ausgeschlossen. Solche Tabubrüche hat es seit der deutschen Wiedervereinigung aber immer wieder gegeben. Sie haben Schritt für Schritt vom Prinzip des Heraushaltens über die Kultur der militärischen Zurückhaltung zu der jetzt von der Bundesregierung propagierten größeren Verantwortung Deutschlands in der Welt geführt.
Der erste Tabubruch auf diesem Weg waren die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr Anfang der 90er Jahre. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden deutsche Soldaten allenfalls für humanitäre Hilfsleistungen ins Ausland geschickt. 1992 beteiligte sich Deutschland erstmals an einem UN-Einsatz zur Friedenssicherung.
In Kambodscha betrieb die Bundeswehr 17 Monate lang ein Hospital mit 60 Betten für UN-Soldaten, die nach dem Terror der Roten Khmer zur Stabilisierung des Landes beitragen sollten. Dass die Deutschen Neulinge in Sachen Auslandseinsatz waren, zeigte sich schon an den fehlenden Uniformen für tropisches Klima. Die musste sich die Sanitäter bei den französischen Verbündeten leihen.
Bald folgten die ersten Balkan-Einsätze. Zur Durchsetzung eines Embargos gegen das zerfallende Jugoslawien schickte die Regierung zwei Kriegsschiffe in die Adria, und Awacs-Aufklärungsflugzeuge überwachten eine Flugverbotszone über Bosnien.
Die oppositionelle SPD und die mitregierende FDP witterten einen Rechtsbruch und zogen vor das Bundesverfassungsgericht. Die Liberalen riskierten damit sogar einen Koalitionsbruch, den die Karlsruher Richter mit ihrer Billigung der Einsätze abwendeten. Für künftige bewaffnete Einsätze deutscher Soldaten machte das Gericht aber eine Zustimmung des Bundestags zur Pflicht.
Das funktionierte einigermaßen reibungslos, bis die erste rot-grüne Bundesregierung 1999 nach nur wenigen Monaten im Amt mit der Frage konfrontiert wurde, ob deutsche „Tornado“-Kampfflieger bei den Nato-Bombardements im Kosovo-Krieg mitmachen sollten. Es war ein doppelter Tabubruch. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg beteiligte sich die Bundeswehr an einem Kampfeinsatz - und das auch noch ohne ein Mandat der Vereinten Nationen.
Die Begründung war damals dieselbe wie heute bei den Waffenlieferungen in den Nordirak. Im Kosovo drohte ein Völkermord. Das Massaker von Srebrenica im Jahr 1995, als 8000 Bosnier von serbischen Soldaten, Polizisten und Paramilitärs systematisch niedergemetzelt wurden, galt damals wie heute als mahnendes Beispiel.
„Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz“ - mit diesen Worten warb der grüne Außenminister Joschka Fischer damals in seiner Partei für Zustimmung zum Regierungskurs. Auf dem Bielefelder Grünen-Parteitag kam es im Mai 1999 trotzdem zur Zerreißprobe. Die Delegierten mussten mit einem massiven Polizeiaufgebot vor militanten Demonstranten geschützt werden. Fischer wurde von einem Beutel mit blutroter Farbe am Ohr getroffen und verletzt. Fraktionschef Rezzo Schlauch wurde Opfer eines Buttersäure-Anschlags.
Die Luftschläge gegen Serbien gingen dennoch weiter, und Kanzler Gerhard Schröder sagte damals Sätze, die auch aus aktuellen Reden zur „neuen deutschen Verantwortung in der Welt“ stammen könnten: „Die alte These - wir sind wirtschaftlich ein Riese und außenpolitisch ein Zwerg - ist ja seit der Wiederherstellung der deutschen Einheit nicht mehr gültig. Niemand gesteht uns mehr eine Sonderrolle zu“, sagte Schröder im Dezember 1999.
Aus dieser Haltung heraus versicherte er den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 die „uneingeschränkte Solidarität“ Deutschlands - und schickte die Bundeswehr nach Afghanistan. Dort wurden aber erst Jahre später Tabus gebrochen. Die Mission galt lange Zeit als „Stabilisierungseinsatz“ brunnenbohrender Bundeswehr-Soldaten.
Erst als die Gewalt 2010 eskalierte, realisierte die deutsche Politik, dass sich die Bundeswehr erstmals seit 1945 mit Bodentruppen in einem Krieg befand. Nach den schweren Gefechten mit den Taliban am „schwarzen Karfreitag“, bei denen drei deutsche Soldaten starben, sagte Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) bei der Trauerfeier: „Tod und Verwundung sind Begleiter unserer Einsätze geworden, und sie werden es auch in den nächsten Jahren sein - wohl nicht nur in Afghanistan.“
Es gab aber auch zwei Situationen, in denen Deutschland Nein sagte, als es von Verbündeten zu Kriseneinsätzen gerufen wurde. Zu der von US-Präsident George W. Bush geformten „Koalition der Willigen“ für eine Irak-Invasion wollte Deutschland 2003 nicht gehören. „Für Abenteuer stehen wir nicht zur Verfügung“, sagte Schröder zur Begründung. Die Geschichte gab ihm Recht.
Das Ausscheren aus der Nato-Intervention im libyschen Bürgerkrieg 2011 gilt dagegen bis heute als Makel der deutschen Außenpolitik. Als einziges großes westliches Land enthielt sich Deutschlands damals - zusammen mit Russland und China - bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat. Die deutschen Kriegsschiffe im Mittelmeer mussten vorübergehend sogar aus den Nato-Verbänden abgezogen werden. Auch das war ein Tabubruch - aber einer der anderen Art.