Analyse: Kretschmann könnte Schlappe in Sieg umwandeln
Stuttgart (dpa) - Er habe erstaunlich gut geschlafen, sagt Winfried Kretschmann am Montagvormittag, sieht dabei aber ziemlich verknautscht aus.
Seine erste Reaktion am frühen Sonntagabend, als sich die Schlappe der Stuttgart-21-Gegner abzeichnete, verriet womöglich etwas mehr über das Innenleben des Ministerpräsidenten: „Jetzt muss ich diesen Scheiß-Bahnhof auch noch vergraben!“, soll der 63-Jährige in der Vorbesprechung der Koalitionsspitzen von Grünen und SPD gebrummt haben.
Am Montag nimmt sich der gläubige Katholik dann schon wieder selbst auf die Schippe: „An Wunder kann man glauben, aber man kann sie natürlich nicht bestellen.“ Eines ist klar: Der Hoffnungsträger der Stuttgart-21-Gegner konnte nicht liefern, was sie sich von ihm erhofft hatten. Und das, obwohl er die jahrzehntelange CDU-Dominanz in Baden-Württemberg bei der Landtagswahl im März durchbrochen hatte.
Hat der erste grüne Ministerpräsident seinen Zenit damit schon überschritten? Noch kurz vor der Volksabstimmung lagen die Grünen in Umfragen bei volksparteiverdächtigen 32 Prozent und mehr als jeder Zweite im Land fand Kretschmanns Arbeit gut.
Kretschmann versucht nun, aus der Not eine Tugend zu machen. Ohne Wenn und Aber akzeptiert er das Ergebnis und verspricht, das Projekt fortan „konstruktiv-kritisch“ zu begleiten. Dabei hatten Grüne und SPD von Anfang an wie die Kesselflicker über Stuttgart 21 gestritten. „Bis zur letzten Patrone“ wollte Kretschmann gegen das verhasste Vorhaben kämpfen, wie Parteifreunde berichten.
Der Volksentscheid war ursprünglich eine Idee der SPD - im Wissen um die hohe Hürde für die Projektgegner. Die Grünen ließen sich darauf ein, und Kretschmann hoffte auf ein Wunder. Am Ende war er vom Ergebnis enttäuscht: „Dieses klare Votum hat mich sehr überrascht.“
Nun aber verkauft Kretschmann die Volksabstimmung als gemeinsamen Erfolg auf dem Weg zu „mehr Demokratie“. Tatsächlich glauben professionelle Beobachter, Kretschmann könne die Schlappe noch zu seinen Gunsten drehen. „Er hat sich als guter Demokrat profiliert“, findet der Tübinger Politologe Hans-Georg Wehling. Damit habe er sich endgültig auch für alle konservativen Bürger wählbar gemacht.
Der Konstanzer Professor Wolfgang Seibel meint: „Die Grünen in Baden-Württemberg werden geprägt durch Winfried Kretschmann. Kretschmann versucht jetzt klugerweise staatsmännisch aus dem Ergebnis das Beste zu machen.“
Am Abend wird Kretschmann auch noch als „Politiker des Jahres 2011“ gewürdigt. „Der erste grüne Ministerpräsident Deutschlands hat einen neuen Politikstil der Offenheit und Beteiligung in die baden-württembergische Landespolitik gebracht“, heißt es in der Begründung des Magazins „Politik und Kommunikation“.
Die CDU hält Kretschmann zumindest für angekratzt. Parteichef Thomas Strobl meint zu Stuttgart 21: „Das ist etwas, was der Seele der Partei gut tut und was uns auch Stärke gibt.“ Es sei schon schön, zu sehen, dass nicht alles, was die Grünen anpacken, bei den Baden-Württembergern auf Gegenliebe stoße.
Auf die Frage, ob das der erste Schritt zur Rückkehr an die Macht ist, will Strobl nicht eingehen. Ihm klingt wohl noch das mahnende Wort von Ex-Regierungschef Günther Oettinger im Ohr: „Kretschmann ist Kult“ - auch im bürgerlichen Lager. Deshalb sei Vorsicht geboten.