Analyse: Krise zerreißt Volk und Politik
Athen (dpa) - Feuer loderte über den Dächern Athens, Chaos herrschte in den Straßen - am Tag nach der entscheidenden Abstimmung im Parlament wurde das ganze Ausmaß der gewalttätigen Ausschreitungen sichtbar.
Nicht nur in der Hauptstadt - auch in Touristenzentren wie Korfu und auf Kreta - brachen sich die Proteste gegen die rigiden Sparbeschlüsse Bahn. Eine breite Mehrheit von 199 der 300 Abgeordneten der Regierungsparteien stimmte den umstrittenen Maßnahmen zu. Doch die Auflösungserscheinungen sind unübersehbar, die Gräben in den Parteien sind tief, die Schuldenkrise zerreißt Volk und Politik.
„Geschafft! Bankrott vorerst abgewendet“, so kommentierte ein sozialistischer Abgeordneter die Beschlüsse. Doch geschafft ist die Rettung vor der Pleite Griechenlands noch lange nicht. Das ist allen bewusst. Auch wie schwer die Umsetzung des ehrgeizigen Sparprogramms wird. Der Widerstand in der Bevölkerung ist groß. Die internationalen Geldgeber kündigen weitere strenge Kontrollen an.
Die Spardebatte zeigte die tiefen Risse auf: Abgeordnete beschimpften sich gegenseitig als Verräter. Ein Ja verrate das Volk und bringe die internationalen Kontrolle ins Land, argumentierte die Opposition. Ein Nein stürze das Volk in den Abgrund des Bankrotts, hielten Regierungsabgeordnete dagegen. „Eine neue Ära für Griechenland und sein politisches System“ sieht die Athener Zeitung „To Vima“. Fast vier Jahrzehnte habe das politische System getragen, nun wanke es.
Nach dem Zusammenbruch der Militärdiktatur und ersten freien Wahlen 1974 lösten sich Sozialisten und Konservative an der Regierung ab. Zusammen brachten sie zuletzt unter dem parteilosen Ministerpräsidenten Lucas Papademos beim Sparpaket eine Mehrheit zusammen. Der „Spalt in den Parteien ist aber tief“, titelte die konservative Athener Zeitung „Kathimerini“. Insgesamt gab es 45 Abweichler. 22 Abgeordnete der Sozialisten stimmten gegen einzelne Artikel oder das gesamte Sparprogramm, mit der Konsequenz eines Ausschlusses aus der Fraktion. 21 Abweichler waren es bei den Konservativen. Die Mehrheit von Papademos schrumpfte von 236 auf 192 Sitze. Nach den „Disziplinar-Rauswürfen“ wuchs die Zahl der unabhängigen Abgeordneten auf 62. Würden sie sich vereinen, wären sie zweitstärkste Kraft im Parlament.
Wer wird die Mehrheit bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im April gewinnen? Umfragen deuten auf erdbebenartige Umbrüche hin. In der jungen Koalitionsregierung dürften vor allem die Sozialisten verlieren: Bei dem Urnengang 2009 hatte die linke Traditionspartei PASOK noch 44 Prozent errungen. In der Gunst der Wähler rutschte sie in der jüngsten Umfrage-Momentaufnahme auf nur noch 9 Prozent. Für die seit Herbst 2011 mitregierenden Konservativen sieht etwas besser aus. Sie liegen derzeit bei 27 Prozent. Zum Regieren oder für eine Wiederauflage der Koalition zusammen mit den Sozialisten oder den kurz vor der Abstimmung ausgestiegenen Ultrakonservativen würde es wohl jedoch nicht reichen.
Dagegen spielen der Absturz der Wirtschaft, die Massenarbeitslosigkeit und die Verarmung der unteren Schichten den linken Parteien in die Hände. Wären morgen Wahlen, bekämen die zerstrittene marxistische Linke und andere gemäßigte linke Parteien fast 40 Prozent. Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) ruft seit Monaten zum Austritt aus der Eurozone und der EU auf. Die Kommunisten setzen auf einen Aufstand des Volkes.
Von den politischen Wirrnissen profitiert inzwischen eine neue Partei aus dem pragmatischen linken Lager: Die Demokratische Linke unter Fotis Kouvelis. Sie liegt in den Umfragen derzeit bei 18 Prozent. Vom Sparprogramm will sie nichts wissen, solange es nicht mit Förderung des Wachstums verbunden ist.
Den Demoskopen zufolge gibt es jedoch eine Unbekannte, der große Anteil der bislang Schweigenden. 30 Prozent der Befragten sagen nicht, wie sie abstimmen wollen. Viele haben auch das Vertrauen in die Politik verloren. Eher in der Mittelklasse angesiedelt, könnten diese Bevölkerungsschichten möglicherweise in letzter Minute für Stabilität und gegen Abenteuer stimmen, meinen Demoskopen. Auch wird nicht ausgeschlossen, dass aus dem Wirrwarr eine Partei des Zentrums hervorgehen könnte. Es fehle aber die politische Persönlichkeit, die Wähler mobilisieren könnte. „Oder sie steht schon vor uns, und wir sehen sie in unserer Panik nicht“, meint ein Abgeordneter der Konservativen in Anspielung auf den parteilosen Ministerpräsidenten Papademos.