Analyse: Merkel in der europäischen Zwickmühle

Brüssel (dpa) - Da hatten die Skeptiker mal wieder Recht: Sah es am Dienstagmorgen in Brüssel noch danach aus, dass der Luxemburger Jean-Claude Juncker zügig als neuer EU-Kommissionspräsident installiert werden könnte, so herrschen 24 Stunden später Frust und Zweifel.

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Die Staats- und Regierungschefs mussten beim Abendessen feststellen, dass es in ihren Reihen erheblichen Widerstand gegen Juncker gibt, aus Großbritannien, Ungarn, Schweden, den Niederlanden. Also treten die „Chefs“ auf die Bremse. Kanzlerin Angela Merkel fordert „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“. Kann also dauern.

„Ernüchternd bis erbärmlich“ nennt der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn im Deutschlandfunk das Gipfel-Ergebnis. Die Staats- und Regierungschefs seien dem britischen Premier David Cameron „fast hundertprozentig entgegengekommen“. Dabei ist Juncker (59) der unumstrittene Sieger der Europawahl vom vergangenen Sonntag. Seine konservative Parteienfamilie, die Europäische Volkspartei EVP, ist trotz Verlusten stärkste Kraft geworden. Daraus leiten die Fraktionen im Parlament für Juncker eine Art Auftrag zur Regierungsbildung ab.

Doch dies entspricht nicht, und Merkel betont es auf ihrer Pressekonferenz gegen Mitternacht immer wieder, den EU-Verträgen. „Und das Nicht-Einhalten von Verträgen hat uns an den Rand der Katastrophe getrieben“, warnt sie, an die Eurokrise erinnernd, die immer noch dunkle Schatten wirft.

Merkels Botschaft: Es geht hier um mehr als um Personalien, es geht um den Kurs der EU in den nächsten fünf Jahren. „In diesen fünf Jahren wird sich entscheiden, welche Rolle Europa künftig in der Welt spielt“. Der tschechische Regierungschef Bohuslav Sobotka formuliert es so: „Europa muss sich ändern und anfangen darüber nachzudenken, was die einfachen Menschen umtreibt.“

Ähnlich wie der tschechische Sozialdemokrat argumentiert auch Cameron, der auf den Wahlsieg der europafeindlichen UKIP in seinem Land reagieren muss. „Die EU kann diese Ergebnisse nicht einfach abschütteln und so weitermachen wie bisher.“ Für den Briten wäre ein Kommissionspräsident Juncker, der seit drei Jahrzehnten die Brüsseler Politik prägt, ein falsches Signal.

Irgendwie wollen die Kanzlerin und viele ihrer Kollegen beim ersten Gipfel nach der Wahl auf das Erstarken der Rechtsextremen und Eurokritiker reagieren. Doch das ist gar nicht so einfach. Die Konsequenzen aus dem Erfolg der Rechten, wie sie etwa in Frankreich gefordert werden, sind nämlich durchaus gegensätzlich zur deutschen Gemengelage.

Frankreichs Präsident François Hollande, der auf dem Gipfel zeitweise einen extrem angeschlagenen Eindruck machte, braucht dringend Geld und Ideen, mit denen er die siechende Wirtschaft ankurbeln kann. Auch aus Griechenland und Italien kommt die Forderung: Schluss mit dem Sparkurs, wir brauchen endlich Wachstum und Arbeitsplätze.

In Deutschland aber wäre eine Aufweichung der Austeritätspolitik, die in den südlichen Krisenländern auch anti-deutsche Ressentiments geschürt hat, Wasser auf die Mühlen der eurokritischen AfD. Für die ist schon viel zu viel Geld deutscher Sparer in der Schuldenkrise verbrannt worden.

In Merkels CDU ist längst ein Streit ausgebrochen über den richtigen Umgang mit der Alternative für Deutschland (AfD), die bei der Wahl mit 7 Prozent erfolgreich war: totschweigen, abgrenzen, umarmen? Die CDU kann sich noch nicht entscheiden, spürt aber die Gefahr, dass sich erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Partei rechts von der Union dauerhaft festsetzen könnte.

Ein ernster Konflikt droht Merkel aber auch mit dem Koalitionspartner SPD in Berlin. Die Sozialdemokraten haben ihrem Spitzenkandidaten Martin Schulz das relativ gute Abschneiden bei der Europawahl mit zu verdanken. Wenn Schulz nun, als zweiter Sieger hinter Juncker, nicht Kommissionspräsident werden kann, dann will die SPD einen anderen Spitzenjob in Brüssel für ihn, zumindest den Posten des deutschen EU-Kommissars. Auf dem sitzt aber bisher noch CDU-Mann Günther Oettinger. Den will die CDU nicht fallenlassen, höchstens für einen anderen Christdemokraten.