Analyse: „Neuer Grad der Grausamkeit“
Rom/Athen (dpa) - Sie sind nur knapp einer größeren Katastrophe entkommen: Hunderte Flüchtlinge auf voll besetzten Frachtern, die ohne Besatzung stundenlang auf dem Mittelmeer treiben oder direkt auf die felsige Küste zusteuern.
Schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage sind die italienischen Behörden im Mittelmeer einem führerlosen Flüchtlingsschiff zur Hilfe geeilt und haben Hunderte Menschen gerettet. Experten sehen darin eine neue skrupellose Methode der Schleuser, die die Not und Verzweiflung der Flüchtlinge ausnutzen.
Diese „Geisterschiffe“, die ohne Besatzung ihrem Schicksal überlassen werden, zeigen nach Ansicht der EU-Grenzschutzagentur Frontex „einen neuen Grad der Grausamkeit“ der Schleuserbanden. „Das ist eine neue Erscheinung dieses Winters“, sagte Frontex-Pressesprecherin Ewa Moncure in Warschau. „Das ist ein Multimillionengeschäft.“ Allein im vergangenen Jahr sind mehr als 150 000 Bootsflüchtlinge in Italien angekommen. „Aus jedem dieser Flüchtlinge werden mehrere tausend Euro oder Dollar für den Transport auf See gepresst“, erklärte Moncure.
Experten schätzen, das Geschäft des Menschenmuggels sei mittlerweile lukrativer als der Drogenhandel rund ums Mittelmeer. Denn die Schleuser haben vor allem einen Trumpf: Den starken Drang der Menschen, aus der Hölle Syriens und anderer Krisenstaaten des Nahen Ostens zu entkommen.
Der syrische Ingenieur Muhammad, der an Bord des am Mittwoch vor Italien geretteten Frachters „Blue Sky M“ war, sagte dem „Corriere della Sera“: „Sie fragen uns, warum wir so viel bezahlt haben, 5000 oder 7000 Euro. Aber wenn du nichts mehr hast und nur die Hoffnung auf ein neues Leben, bist du bereit, alles zu tun.“ Sein Ziel wie das der meisten Mitreisenden ist Nordeuropa: Vor allem Deutschland oder die Niederlande, Dänemark und Schweden.
Nach Ansicht des Sprechers der italienischen Küstenwache, Filippo Marini, ist es eine neue Methode der Menschenschmuggler, Frachter mit Flüchtlingen auf Kurs zu bringen und sie dann ihrem Schicksal zu überlassen. „Wir beobachten dieses Phänomen aufmerksam“, sagte er dem italienischen TV-Sender Rai. Den Frachter „Ezadeen“ mit 450 Menschen an Bord brachten die Rettungskräfte am Freitag unter ihre Kontrolle. Nur wenige Tage zuvor hatte die Küstenwache bereits eine Katastrophe verhindert, als sie die „Blue Sky M“ stoppte, die mit fast 800 Migranten vermutlich per Autopilot auf die Küste Apuliens zusteuerte.
Doch nicht nur Italien ist von den immer perfideren Maschen betroffen - im gesamten östlichen Mittelmeer wimmelt es von Seelenverkäufern, die verzweifelte Menschen nach Europa bringen. Mittlerweile schieben sich die Mittelmeerländer vermehrt gegenseitig die Verantwortung zu. Nach der Rettung der „Blue Sky M“ sagte ein Beamter der Küstenwache auf der griechischen Insel Othonoí der Deutschen Presse-Agentur: „Die sind weitergefahren. Wir sehen sie nicht mehr.“ Ein Stadtratsmitglied der Insel Korfu betonte: „Ein Ärger weniger für uns.“
Für die Schmuggler lohne sich die Rechnung, wenn ein ohnehin bereits ausgemustertes Schiff ohne Crew und Treibstoff auf dem Meer zurückgelassen werde, erklärt Moncure. Die Taktik der internationalen Banden: Nach der Ankunft in der Menge der Migranten untertauchen oder gleich vom Frachter auf ein Schnellboot umsteigen, um sich aus dem Staub zu machen, berichtete ein Offizier der griechischen Küstenwache. Muhammad erzählt: „Niemand wusste, wer der Kapitän ist oder wer zur Besatzung gehört. Es war ein Klima wie bei der Mafia.“