Analyse: Norwegen trauert still - der Attentäter bleibt laut
Kopenhagen/Oslo (dpa) - Trauernde applaudieren sozialdemokratischen Jugendlichen auf dem Weg zu einem Kondolenzbuch, und allen wird - unter Tränen - ein bisschen wärmer ums Herz. Wenig später breitet ein mutmaßlicher Massenmörder vor dem Haftrichter kalt aus, er habe mit seinen Anschlägen die Sozialdemokraten dafür bezahlen lassen, dass sie das Land durch Zulassung muslimischer Massenzuwanderung geschwächt hätten.
Die Tötung von 76 Menschen nannte Anders Behring Breivik „ein starkes Signal, das man nicht missverstehen konnte.“ Die Norweger gaben ganz andere Signale: Sie beklatschten junge Aktive aus der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF, die so unendlich viele Freunde und Gleichgesinnte beim Massaker auf der kleinen Fjordinsel Utøya verloren hatten.
Vorher hatte das ganze Land bei einer Schweigeminute stillgestanden. „Es wird für uns ein vor dem 22. Juli und ein nach dem 22. Juli geben“, sagte Ministerpräsident Jens Stoltenberg mehrfach über das beispiellose Verbrechen des 32-jährigen Rechtsradikalen, und er fügte hinzu: „Aber wir werden dafür sorgen, dass unser Norwegen sein Gesicht behält.“
Der dritte Tag nach den unfassbar heimtückischen Anschlägen war wieder nur schwer zu bewältigen. Denn mit seinen wahnsinnigen, hasserfüllten Aussagen vor der Verhängung von acht Wochen Untersuchungshaft drängte sich der Attentäter erneut in den Vordergrund. Was mochten die Eltern der ermordeten Kinder und Jugendlichen gedacht haben, als sie hörten, dass er den Wunsch geäußert hatte, vor Haftrichter Kim Heger eine Uniform zu tragen?
Kurz vorher hatten sie erst erfahren müssen, dass der Blondschopf bei seiner Jagd auf wehrlose junge Menschen mit zwei Schusswaffen besondere Projektile verwandt hatte: Ein Chirurg aus Hønefoss berichtete von schrecklichen inneren Verletzungen, die er so noch nie gesehen habe. Die Kugeln seien im Körper der Opfer noch einmal explodiert.
Angesichts dieser Schreckensbotschaften fast ohne Ende beeindruckte der weiter so unaggressive Grundton bei den Reaktionen. Auch wenn Jugendliche vor dem Osloer „Tinghus“, dem Stadtgericht, das Auto mit dem geständigen Täter attackierten, der sich für unschuldig hält. Im roten Pullover wirkte er beim Abtransport auf Pressefotos fast entspannt.
Als Ziel seiner Attacken hat er nun eindeutig die norwegischen Sozialdemokraten benannt. Die Partei dominiert Norwegen seit fast einem Jahrhundert. Meistens an der Regierung, in den letzten Jahren mit dem 52-jährigen Jens Stoltenberg an der Spitze auch bei Wahlen wieder erfolgreicher.
Die Arbeiterpartei steht, bei vielen Aufs und Abs, für den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat, für eine offene Gesellschaft gerade auch mit Blick auf Zuwanderer: Auffällig viele Augenzeugenberichte von Überlebenden des Massakers vom sozialdemokratischen Sommerlager auf Utøya kamen von nicht unbedingt „nordisch“ aussehenden Jugendlichen.
Am frühen Abend versammeln sich überall in Norwegen Hunderttausende, um zu zeigen, dass sie zu diesem offenen Gesellschaftsmodell stehen. Auch das wurde wieder zu einer beeindruckenden Demonstration bei dem Versuch eines ganzen Landes, das friedliche Miteinander nicht durch die unfassbare Mordlust eines rechtsradikalen Islamhassers zerstören zu lassen. Regierungschef Stoltenberg allerdings hat seinen Landsleuten auch schon prophezeit, dass ihnen noch schwere Prüfungen im Gefolge des Monsterverbrechens bevorstehen.
Die Äußerungen Breiviks gehörten zu diesen Prüfungen. Das Gericht zitierte ihn vom Hafttermin und nach der Tötung von Kindern und Teenagern mit dem Satz: „Er wünschte der Arbeiterpartei größtmögliche Verluste zuzufügen, um Rekrutierungen für die Zukunft zu unterbinden.“