Analyse: Nur keinen Streit vermeiden
Berlin (dpa) - Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gilt als streitbare Frau. Im Kabinett von Helmut Kohl hatte sie ihr Amt als Justizministerin 1996 hingeworfen, als sich die FDP für den Großen Lauschangriff aussprach.
Dass die Linksliberale auch in der schwarz-gelben Koalition unter Angela Merkel oft mit den Zähnen knirscht, ist kein Geheimnis. Doch während sich die junge Garde der FDP vor allem hinter den Kulissen über die Union beklagt, bleckt Leutheusser-Schnarrenberger jetzt auch öffentlich die Zähne.
Im „Hamburger Abendblatt“ empfahl die 59-Jährige ihrer Partei am Wochenende ganz unverhohlen, eine neue Öffnung zur SPD ins Auge zu fassen: „Die FDP darf sich nicht einseitig auf die Union ausrichten.“ Die Liberalen seien ein verlässlicher Koalitionspartner. „Aber Fakt ist: Das Parteienspektrum verändert sich.“ Bis auf die Linkspartei orientierten sich inzwischen alle an der Mitte. Daraus müsse die FDP Konsequenzen ziehen - und auch die SPD: „Die SPD wird kein Interesse daran haben, als Juniorpartner der Grünen zu enden.“
So verwegen der Vorstoß angesichts des dramatischen Umfragetiefs der FDP wirkt, strategisch ist er nur konsequent. Während bei Union und Grünen längst offen über schwarz-grüne Bündnisse diskutiert wird, verharren FDP und SPD immer noch im alten Lagerdenken, festgelegt auf Bündnispartner, denen sie bisweilen regelrecht lästig zu sein scheinen.
In der schwarz-gelben Koalition in Berlin ist das fast täglich zu besichtigen. Vom Atomausstieg fühlen sich viele in der FDP überrumpelt. Der Versuch, mit Steuersenkungen wieder in die Offensive zu kommen, droht zu versanden. Zudem muss Leutheusser-Schnarrenberger als FDP-Landesvorsitzende in Bayern immer wieder erleben, wie Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) die Liberalen im Freistaat am Nasenring durch die Arena führt.
Aufschlussreich ist die Reaktion der SPD. Statt die sozialliberalen Gedankenspiele rundheraus zurückzuweisen, beklagt Parteichef Sigmar Gabriel vor allem, dass die Justizministerin nicht die heutige FDP repräsentiere: „Das Problem ist, dass Frau Leutheusser-Schnarrenberger in ihre Partei hineinruft und kein Echo haben wird, weil die FDP nicht mehr sozialliberal ist.“
Sein Stellvertreter Klaus Wowereit wird noch deutlicher: „Leutheusser-Schnarrenberger ist eine kluge Frau“, sagte Berlins Regierender Bürgermeister am Samstag am Rande eines Sommerfestes. „Sie steht für die gute, alte und liberale FDP.“ Er könne der FDP nur wünschen, dass sich die Ministerin mit ihren Positionen durchsetze. „Doch das ist ein weiter Weg.“
SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann wertet den Vorstoß der FDP-Frau als „Rettungsruf“, der sich vor allem an Parteichef Philipp Rösler richte: „Rösler muss entscheiden, ob er die FDP in Nibelungentreue zur Union in die außerparlamentarische Opposition führt oder neue Koalitionsoptionen eröffnen will.“
Mindestens ebenso interessant aber sind die Reaktionen der Union auf die Lockerungsübungen der FDP. Während die CSU am Wochenende spitz auf die Umfragewerte der Liberalen verwies, ging die CDU zunächst auf Tauchstation. Direkt wollte sich niemand aus der Führungsriege zu dem Vorstoß von Leutheusser-Schnarrenberger äußern.
Stattdessen meldete sich im „Tagesspiegel“ die stellvertretende CDU-Vorsitzende Annette Schavan zu Wort - mit einer Grundsatzkritik, die tief blicken lässt. „Die gute Entwicklung des Landes und die Ergebnisse unserer Politik geraten in den Hintergrund, weil es in der Koalition keinen Grundton des Wohlwollens, sondern einen Mangel an Vertrauen gibt“, beklagte die Bildungsministerin, die als Vertraute von Angela Merkel vielen als Sprachrohr der Kanzlerin gilt.
„Theoretisch geht viel, auch Schwarz-Grün“, betonte Schavan. „Aber praktisch gilt: Die CDU steht mit der FDP in einer Koalition und zum Thema Vertrauen gehört es deshalb, dass ich nicht über andere Farbenspiele schwadroniere.“