Analyse: Operation große Koalition

Berlin (dpa) - Auf ihn kommt es jetzt an. Sigmar Gabriel steht im Garten der Parlamentarischen Gesellschaft am Bundestag, umringt von einer kleinen Menschentraube.

Plötzlich rauscht Peer Steinbrück heran, der gewesene Kanzlerkandidat funkt dazwischen: „Glauben Sie dem Mann kein Wort, das ist doch eine Verschwörung.“ Eine typische Steinbrücksche Ironie. Der einflussreiche Seeheimer Kreis der SPD hat am Montagabend nach der Bundestagswahl zum Gartenfest geladen - und es gibt nur ein Thema: Soll man sich eine große Koalition antun? Alternativen scheint es kaum zu geben.

Da wäre Schwarz-Grün - die SPD könnte in der Opposition eine Annäherung an die Linke suchen. Führende Genossen sehen das aber als falschen Weg an. Was, wenn die Zusammenarbeit besser klappt als erwartet und mittelfristig auch in den Ländern zum Tragen kommt? Die andere Möglichkeit: SPD und Grüne verweigern sich - aus Angst wie die FDP von einer kraftstrotzenden Union zerrieben zu werden. Das könnte Neuwahlen bedeuten. Aber: In der SPD wird fest davon ausgegangen, dass die FDP dann wieder in den Bundestag einziehen würde und entweder die Union allein oder mit der FDP eine Mehrheit hätte.

Nach zwei Tagen der Resignation ist ein Wandel zu spüren - die Partei kommt in der Realität an. „Wir feiern, weil keiner so genau weiß, was kommt“, umschreibt Seeheimer-Sprecher Johannes Kahrs süffisant die Stimmung beim Gartenfest, wo auch viele Neumitglieder der nun 192 Mitglieder starken Fraktion dabei sind. Gabriel spricht davon, dass man nun „kühlen Verstand und ein heißes Herz“ brauche.

Er sieht seine Aufgabe im 150. Jahr des Bestehens der deutschen Sozialdemokratie erst einmal darin, den Laden zusammenzuhalten. Er ist vorsichtig: Kein Wort, was als Vorpreschen in Richtung Koalition mit der Union ausgelegt werden könnte. Das Motto „Erst das Land, dann die Partei“ könnte nicht zur Anwendung kommen, wenn der Widerstand zu massiv ist. Das größte Problem sind neben der skeptischen Basis die Länder. Der größte Landesverband Nordrhein-Westfalen von Hannelore Kraft ist dagegen. Ebenso Baden-Württemberg. Die Länder haben über den Bundesrat viel Macht - sie fürchten zu viele Kompromisse zu ihren (finanziellen) Lasten bei einer großen Koalition.

Entscheidend könnte der Verfahrensvorschlag des Vorstands für den Parteikonvent am Freitagabend im Willy-Brandt-Haus sein. Wird er angenommen, könnte die SPD-Spitze mit der Unionsführung um Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ein erstes Gespräch führen. Der Konvent würde formal nur unterbrochen - und die rund 200 Delegierten zu einer Entscheidung über Koalitionsverhandlungen erneut zusammengerufen. Sollte es beim Konvent eine Eigendynamik mit einem Votum für einen Mitgliederentscheid geben, hätte Deutschland womöglich nicht vor Weihnachten eine neue Regierung. Die SPD lässt sich da nicht hetzen.

Aber: Vom 14. bis 16. November hält die SPD in Leipzig ihren Bundesparteitag ab - es wäre allein schon aus Kostengründen sicher hilfreich, bis dahin Verhandlungen abzuschließen, um nicht einen weiteren Parteitag zur Billigung eines Koalitionsvertrages
einberufen zu müssen. Auch 2005 stimmte ein Bundesparteitag dem Vertrag mit der Union zu - in Karlsruhe am 14. November.

Klar scheint, dass der Preis für Merkel trotz nur fünf fehlender Mandate zur absoluten Mehrheit ein recht hoher sein könnte - die SPD spielt auf Zeit und lässt sich mit Blick auf Länder und Basis nicht billig abspeisen. Sie könnte sich im Vergleich zur fast 42 Prozent starken Union größer machen als sie es mit 25,7 Prozent ist. Als Schlüsselministerium, das man bekommen müsste, wird bereits das Finanzministerium genannt. Was würde dann aus Wolfgang Schäuble?

Als inhaltliche Bedingungen kursieren Forderungen wie 8,50 Euro Mindestlohn oder höhere Steuern für Wohlhabende. Denn: Bei einer großen Koalition wäre Linke-Fraktionschef Gregor Gysi im Bundestag Oppositionsführer - und könnte der SPD Wähler abjagen. Daher wird auf ein starkes linkes Profil auch für eine große Koalition gepocht. „Wir dürfen da nicht nur doofe Mehrheitsbeschaffer sein“, wird betont. Gabriel sagt, man lasse sich nicht wie die FDP von Merkel ruinieren.

Es schwingt bei mehreren SPD-Politikern auch Erleichterung mit, dass es dank Gabriels Idee eines Konvents einen geordneten Prozess gibt: Die Partei gibt sich geschlossen. Das Grundgesetz sieht keine Zeitbegrenzung für Koalitionsverhandlungen vor - die schwarz-gelbe Bundesregierung ist so lange weiter geschäftsführend im Amt.

Anders als 2009 sind bisher personelle Konsequenzen ausgeblieben - doch kann es einen Neustart mit der alten Garde geben? Gabriel könnte Vizekanzler werden - auffällig ist, wie er Steinmeier lobt, dessen Wiederwahl zum Fraktionschef er „selbstverständlich“ unterstütze. Bisher galt das Verhältnis als getrübt. Nun könnten sie aufeinander angewiesen sein, wenn die Operation große Koalition gelingen soll. Noch unklar ist bisher, was Steinbrück will - nur in einem Punkt lässt er keine Fragen offen: Er will nicht noch mal Merkel dienen.