Analyse: Peer Steinbrück zwischen Schein und Sein
Berlin (dpa) - Peer Steinbrück attestiert Barack Obamas Halbschwester Auma ein sehr „fließendes Deutsch“. In der Hitze am Brandenburger Tor ist heute für ihn mal einer der schöneren Tage im Leben eines Kanzlerkandidaten.
Immer wieder lacht er herzlich im Gespräch mit Auma, die 1980 zum Studium nach Deutschland kam, 16 Jahre hierblieb und auch den Fall der Berliner Mauer miterlebte. Wenig später lacht er auch mit Obama persönlich. Er trifft ihn in der Repräsentanz der Commerzbank am Brandenburger Tor. Doch ob er künftig Obama als Bundeskanzler öfter sehen kann, wird immer fraglicher.
Denn schöne Bilder sind das eine, die Wahlkampfrealität ist für den 66-Jährigen derzeit misslich. Zwar werden dem Institut Forsa im Willy-Brandt-Haus tendenziöse Umfragezahlen unterstellt. Aber der Umstand, dass die SPD im neuen „Stern-RTL-Wahltrend“ auf 22 Prozent fällt und Union und FDP mit einer eigenen Mehrheit rechnen können, zeigt einen gefährlichen Trend. Er könnte die SPD demotivieren.
Eine Unterbietung des bisher schlechtesten Wahlergebnisses im Bund von 23 Prozent (2009) im 150. Jahr des Bestehens der Sozialdemokratie könnte auch Parteichef Sigmar Gabriel schwer unter Druck bringen. Seit seinem etwas forschen Auftreten vor einer Woche in der Sitzung der Bundestagsfraktion dürften sich schon jetzt etwaige Ambitionen Gabriels auf den Fraktionsvorsitz nach der Wahl erledigt haben. Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier gilt den Abgeordneten als ausgleichenderer Charakter, der den Laden bisher gut zusammenhält.
Steinbrück hatte Gabriel zuletzt indirekt fehlende Loyalität unterstellt und so den Parteikonvent mit dem Startschuss für den geplanten Wohnzimmerwahlkampf am Sonntag überschattet. Am Mittwoch war die SPD bemüht, einen weiteren Brandherd auszutreten. Der „Stern“ berichtete über Rücktrittsgedanken Steinbrücks schon im Januar.
Zwar gab es zwei Tage vor der niedersächsischen Landtagswahl in Braunschweig tatsächlich ein Zwiegespräch zwischen Steinbrück und Gabriel. Der „Stern“ will erfahren haben, dass Steinbrück damals den Rücktritt als Kandidat angeboten habe, sollte die SPD unter 30 Prozent fallen. Demnach hätte Gabriel dann Steinmeier oder NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ins Rennen schicken wollen. Die SPD schaffte aber eine rot-grüne Mehrheit - mit einer Stimme.
Aus dem Willy-Brandt-Haus wird der „Stern“-Bericht dementiert. Es habe nie ein solches „Rücktrittsszenario“ gegeben, betont Steinbrücks Sprecher Rolf Kleine. Ein Vorstandsmitglied hält vor allem die sogenannten „Umfelder“ der Spitzenleute für das Hauptproblem, die an Medien bestimmte „Spins“ und Theorien streuen. So kommt die Partei nicht zur Ruhe - und die Attacken gegen die unklare Finanzierung der Milliardenversprechen im endlich vorliegenden Wahlprogramm von CDU/CSU treten in den Hintergrund. Eine von Selbstbeschäftigung und schwindender Hoffnung auf einen Wahlsieg gelähmte Partei wäre der schlimmste anzunehmende Unfall nur drei Monate vor der Wahl.
Die Spitzenleute mühen sich, Gabriel betont am Mittwoch: „Einen Aufbruch gibt es nur mit Peer Steinbrück und der SPD“. Doch wie der Negativtrend noch gestoppt - und ein großer Krach in der Partei nach dem 22. September verhindert werden kann - das ist derzeit die große Frage. Das ursprüngliche Kalkül geht bisher nicht auf: Die Euro-Krise zeichnet sich nicht als dominierendes Wahlkampfthema ab. Der frühere Bundesfinanzminister sollte mit seinem unbestrittenen Fachwissen auch in der Mitte punkten. Längst hat die SPD den Fokus darauf gelenkt, erstmal das eigene Lager zu motivieren - mit einem linken Programm.
Aber viele Wähler zweifeln, ob Steinbrück dies authentisch vertreten kann. Laut Forsa würden bei einer Direktwahl 58 Prozent Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wählen, nur 18 Prozent Steinbrück. Allerdings wurden diese Zahlen vor Steinbrücks Gefühlsausbruch beim Auftritt mit seiner Frau beim Parteikonvent erhoben. Die SPD hofft, dass diese sehr menschliche, nicht inszenierte Reaktion hilft, das festgefahrene Steinbrück-Bild bei einigen Bürgern zu verändern. Und die SPD will von Obama lernen - etwa beim Mobilisieren übers Internet und dem direkten Ansprechen der Bürger durch Tausende Wahlkämpfer.