Analyse: Piraten versuchen das „organisierte Chaos“
Neumünster (dpa) - Eine Partei wie die anderen wollen sie nicht werden. Aber der Druck auf die Piraten wächst. Schon bald könnten sie in Bund und Ländern über Koalitionen entscheiden. Oder ist der Hype bald wieder vorbei?
Neumünster (dpa) - Eine Partei wie die anderen wollen sie nicht werden. Aber der Druck auf die Piraten wächst. Schon bald könnten sie in Bund und Ländern über Koalitionen entscheiden. Oder ist der Hype bald wieder vorbei?
Zumindest den einen, seit Wochen akuten Kritikpunkt konnten die Piraten auf ihrem Parteitag ausräumen. Gegen den Verdacht, zu tolerant gegenüber rechtsextremen Positionen zu sein, setzten sie eine einstimmig verabschiedete Entschließung: Holocaust-Leugner haben keinen Platz in der aufstrebenden Partei. Ein emotionaler Moment, eine improvisierte Abstimmung. Die 1500 Piraten klatschen sich selbst Beifall. Damit war das Thema abgeräumt. Ansonsten blieb der Bundeskongress in Neumünster vage, wollte es auch bleiben.
Wofür steht die junge Partei, über ihre bekannten Positionen wie Freiheit im Netz, Grundeinkommen für alle und kostenloser Nahverkehr hinaus? Wie soll ein modernes Urheberrecht aussehen, das die Interessen von Künstlern und Autoren respektiert? Kaum ein Wort dazu. Doch die inhaltliche Schwäche der Piraten ist zugleich ihre Stärke. 72 Prozent ihrer Wähler nennen die Unzufriedenheit mit den anderen Parteien als Motiv, nur 24 Prozent haben inhaltliche Gründe.
Der Kongress in Neumünster war vor allem ein Wahlparteitag. Der alte Vorsitzende Sebastian Nerz (28) trat wieder an, vor allem aus dem Berliner Landesverband war er scharf angegriffen worden. Einen radikalen Kurswechsel wollten die Piraten aber nicht. Am Ende wurde Vize Bernd Schlömer (41) zum neuen Chef, Ex-Chef Nerz zum neuen Vize gewählt. Ein Neuanfang sieht anders aus, aber der war auch nicht gewollt. Etwas mehr Präsenz und Sichtbarkeit soll Schlömer bringen, aber der Führung sind dabei enge Grenzen gesetzt.
„Schwarmintelligenz braucht keine übergeordnete Koordinationsinstanz“, sagt die später durchgefallene Vorstands- Kandidatin Birgitta Brockmann. Mit anderen Worten: Die Führung hat nichts zu sagen. Wenn dies so bleibt, kastriert sich die Partei nach Ansicht mancher Beobachter selbst. „Das ist ein Sprechverbot für klare Meinungen“, sagt der Hamburger Parteienforscher Joachim Raschke, der den Parteitag der Piraten als Gast beobachtet.
Prominente Piraten widersprechen: „Wir arbeiten nicht so hierarchisch wie andere“, sagt der neue Generalsekretär Sven Schomacker. „Ich finde den chaotischen Aspekt gut.“ Dennoch ist den Piraten bewusst, dass sie inhaltliche Defizite auffüllen müssen. Ein Programmparteitag in Bochum im Herbst soll sich auch an die Außen- und Europapolitik „heranwagen“.
Nun kann es aber sein, dass die Piraten schon bald und schneller, als vielen lieb ist, in den Parlamenten Farbe bekennen und über mögliche Regierungsbündnisse entscheiden müssen. SPD-Chef Sigmar Gabriel mahnt, dass Stimmen für die Piraten sogar das Fortleben schwarz-gelber Koalitionen ermöglichen könnten. Andere haben mehr Sorge, dass es bald zu großen Koalitionen aus Union und SPD keine Alternativen mehr gibt, wenn die Piraten in Landtage und 2013 in den Bundestag einziehen.
Vielleicht werden die Piraten aber auch zur Unterstützung von rot-grünen Minderheits-Bündnissen gebraucht. Der neue Vorsitzende Schlömer schließt eine Regierungsbeteiligung nach der Bundestagswahl 2013 nicht grundsätzlich aus. Und was wird, wenn in Bayern die Ablösung der CSU gelingen könnte - aber nur mit den Piraten?
Oft werden die Piraten von heute mit den jungen Grünen verglichen, ob sie den selben Weg gehen werden, ist aber nicht gewiss. Der Grünen-Experte Raschke will den Vergleich auch nur sehr begrenzt gelten lassen. Er findet die inhaltliche Basis der Piraten schmal. Das sei bei den Grünen anders gewesen. „Ökologie, Feminismus, Dritte Welt“, nennt Raschke.
Auf die Frage, ob dies nicht vor allem eine andere Generation sei, hier die noch ziemlich jungen Piraten, dort die altgewordenen Grünen, meint Raschke: „Wenn jede Generation eine eigene Partei braucht, dann hat die Gesellschaft ein Problem.“
Die Piraten selbst sehen das durchaus selbstbewusst. „Viele Wähler der Piraten waren vorher Nichtwähler. Wir können die Parteienverdrossenheit auflösen“, sagt Generalsekretär Schomacker. Für die Zukunft kann er sich „Online-Parteitage“ vorstellen. Daran will er arbeiten. Demokratie 2.0, das ist das Ziel.