Analyse: „Quittung“ für jahrelange Versäumnisse
Karlsruhe/Berlin (dpa) - Über Jahre hinweg hat die Politik die Sicherungsverwahrung für gefährliche Gewalt- und Sexualtäter immer wieder verschärft. Dies rächt sich nun: Das Bundesverfassungsgericht fordert nun ein neues Gesamtkonzept - obwohl Berlin gerade erst reformiert hat.
Zum Jahreswechsel waren die Rechts- und Innenexperten der Bundesregierung kurzzeitig in Feierlaune: Nach langem Ringen um Kompromisse trat endlich eine Reform zur Sicherungsverwahrung für gefährliche Gewalt- und Sexualtäter in Kraft. Doch als der Präsident des Bundesverfassungsgerichts heute mit der Verkündung des Urteils zur Sicherungsverwahrung begann, wurde schnell klar, dass die Karlsruher Richter auch vom jüngsten Reformwerk nicht viel übrig lassen würden: Minutenlang verlas Andreas Voßkuhle eine schier endlose Paragrafenkette - und beendete die Aufzählung mit der nüchternen Feststellung, diese Vorschriften seien mit dem Grundgesetz unvereinbar.
In der 68 Seiten starken Entscheidung machen die Richter deutlich: Mit ein paar kosmetischen Korrekturen wird die Sicherungsverwahrung nicht zu retten sein. Vielmehr sei ein „freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept“ erforderlich. Jetzt rächt sich, dass die Koalition aus Union und FDP mit ihrer Reform zwar die richtige Richtung einschlug, aber nur halbherzig vorging. Nun müssen Bund und Länder bis 2013 ein neues Gesamtkonzept vorlegen.
Die Kritik der Richter trifft aber auch die Vorgängerregierungen aus SPD und Grünen. Seit 1998 habe der Gesetzgeber „die Sicherungsverwahrung immer mehr ausgeweitet, ohne jedoch (...) ein freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept für die Unterbringung zu entwickeln“, heißt es in dem Urteil. Berühmt wurde der Satz des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD), Kinderschänder solle man „wegschließen - und zwar für immer“.
Wie das neue Konzept auszusehen hat, dazu machen die Richter detaillierte Vorgaben. Bislang änderte sich in vielen Fällen für einen Täter praktisch nichts, wenn er nach dem Ende seiner regulären Haftzeit in die Sicherungsverwahrung wechselte. Das muss künftig anders sein: Entscheidend ist vor allem das Therapieangebot. Denn die Verwahrten sollen eine „realistische Perspektive“ erhalten, wieder in Freiheit zu kommen. „Insbesondere im therapeutischen Bereich müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden“, legten die Richter fest.
Den Verfassungsrichtern und der Politik sitzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg im Nacken. 2009 hatte der EGMR eine rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die früher geltende Zehn-Jahres-Grenze hinaus für menschenrechtswidrig erklärt. Seither wurden immer wieder Verwahrte freigelassen, obwohl sie weiter als gefährlich galten. Das aber wollten die Karlsruher Richter verhindern, ohne in offenen Widerspruch zu den Straßburger Vorgaben zu geraten. Auch deshalb ist ein komplett neues Konzept der Sicherungsverwahrung erforderlich.
Dass dies teuer werden kann, ist den Verfassungsrichtern klar. Ausdrücklich schreiben sie, es müsse sichergestellt sein, „dass mögliche Therapien nicht nur deshalb unterbleiben, weil sie im Hinblick auf Aufwand und Kosten über das standardisierte Angebot der Anstalten hinausgehen“. Doch letztlich gibt es wohl nur eine billigere Alternative, und die wäre in manchen Fällen riskant - die Freilassung.