Analyse: Richter sagen Nein zur Vorratsdatenspeicherung
Luxemburg/Berlin (dpa) - Es ist eine große Überraschung, die da aus Luxemburg kommt. Der Europäische Gerichtshof hat sich monatelang Gedanken über ein Thema gemacht, das seit Jahren für Streit in der EU und in Deutschland sorgt - die Vorratsdatenspeicherung.
Mit dem Ergebnis hat kaum jemand gerechnet: Die Richter kippen die EU-Richtlinie zu der massenhaften Datensammlung. Komplett. Und rückwirkend. „Es ist so, als hätte es das Gesetz nie gegeben“, verlautet aus dem Gerichtsgebäude.
Nun herrscht in der EU und in Deutschland Ratlosigkeit, wie es weitergehen soll. Klar ist nur: Es stehen zähe Debatten an - in Brüssel und in Berlin.
Vorratsdatenspeicherung, das ist die flächendeckende Erfassung, wann wer mit wem wie lange telefoniert oder SMS und E-Mails schreibt. Seit 2006 müssen die EU-Staaten dafür sorgen, dass Telekommunikationsfirmen ohne Anfangsverdacht oder konkrete Gefahr solche Daten sammeln. Für mindestens sechs Monate und höchstens zwei Jahre. Fahnder sollen bei Bedarf auf die Daten zurückgreifen können, um Straftaten aufzuklären oder Terrorpläne zu vereiteln.
Das Instrument ist seit langem umstritten. Die Befürworter halten es für unverzichtbar im Kampf gegen Verbrechen und Terror. Die Kritiker halten es für völlig unverhältnismäßig und rechtswidrig. Die große Streitfrage landete schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof.
Die Luxemburger Richter listen nun ausführlich auf, was sie alles gegen das EU-Gesetz einzuwenden haben: Die Speicherung sei ein „schwererwiegender Eingriff“ in die Grundrechte der Bürger. Sie könnten das Gefühl der ständigen Überwachung bekommen. Die lange Speicherdauer sei nicht auf das notwendige Maß beschränkt. Es fehlten Kriterien, wann Fahnder die Daten nutzen dürfen - etwa bei bestimmten Straftaten oder einer richterlichen Anordnung. Kurzum: Sie erklären die Richtlinie für ungültig.
Entscheidend wird nun sein, ob die EU-Kommission einen neuen Gesetzesvorschlag macht. Dieser müsste die Kritik aus Luxemburg berücksichtigen und dürfte nicht in die Grundrechte wie Datenschutz oder Schutz der Privatsphäre eingreifen. Er könnte strengere Kriterien für den Datenzugriff und kürzere Speicherfristen enthalten.
Doch ein solches Gesetzgebungsprojekt dürfte Jahre dauern. Außerdem kommt es eh zu Verzögerungen, weil im Mai Europawahlen anstehen und im Herbst die EU-Kommission ausgetauscht wird.
Bis zu einer Reform können die EU-Staaten tun und lassen, was sie wollen. „Sie können ihre Gesetze bewahren wie sie sind oder sie gemäß dem EU-Urteil ändern“, sagt ein EU-Diplomat. Das heißt, fast überall in Europa werden wohl vorerst weiter Daten gesammelt. Die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel fürchtet, dass jedes EU-Land „sein eigenes Vorratsdaten-Süppchen kocht“, falls die EU-Kommission nicht bald einen neuen Vorschlag vorlegt.
Und in Deutschland? Gibt es weiter keine Vorratsdatenspeicherung. Schon seit Jahren fehlt die Gesetzesregelung dazu. Die deutsche Vorgabe wurde 2010 vom Verfassungsgericht gekippt. Seitdem gab es nichts als Zank um das Thema. Union und SPD wollten damit Schluss machen. Gleich nach dem Urteil aus Luxemburg wollten sie einen eigenen Entwurf zur Vorratsdatenspeicherung vorlegen. Die Koalitionäre hatten erwartet, dass die EU-Richtlinie geändert werden muss - nicht aber, dass sie komplett für ungültig erklärt wird.
Ein „richtlinienloser Zustand“ sei das jetzt, sagt Justizminister Heiko Maas (SPD). Im Koalitionsvertrag hatten Union und SPD festgeschrieben, dass sie die EU-Richtlinie umsetzen werden. „Das können wir nicht mehr, weil es die Richtlinie nicht mehr gibt“, sagt Maas. Manch einer in der Koalition dürfte sich wünschen, dass auch andere Vereinbarungen im Vertrag auf ähnliche Weise hinfällig würden.
Vom Tisch ist das Thema damit aber nicht. Die Debatte startet nur neu. Und es ist bereits absehbar, dass das zwischen den Koalitionspartnern nicht ganz geräuschlos von statten gehen dürfte.
Maas und sein Kabinettskollege Innenminister Thomas de Maizière (CDU) bemühen sich nach dem Urteil zwar um eine gemeinsame Botschaft: Beide erklären, dass sie die Entscheidung sorgfältig auswerten wollen und dann zusammen überlegen, wie es weitergeht.
Aber es ist schon herauszuhören, dass die beiden unterschiedlich an die Sache herangehen. Maas betont, er wolle „ergebnisoffen“ mit dem Koalitionspartner über das weitere Verfahren reden. De Maizière dagegen sagt schon mal, dass er eine Neuregelung will, weil die Datenspeicherung wichtig für die Aufklärung schwerer Straftaten sei.
Die gute Nachricht für Deutschland ist, dass kein millionenschweres EU-Bußgeld mehr droht. Brüssel hatte Berlin in Luxemburg verklagt, weil die Bundesregierung die Vorgaben nicht umsetzte. Offiziell schweigt die EU-Kommission noch, doch EU-Diplomaten sagen: „Die Kommission muss ihre Klage zurücknehmen und für erledigt erklären.“