Analyse: „Russland ist nicht Europa“
Moskau (dpa) - Russland rüstet sich für einen Kampf der Kulturen zwischen Ost und West. Ein neues Leitbild soll jetzt helfen, „die kulturelle und geistige Einheit“ des Landes zu festigen und sie vor den Auswüchsen westlicher Toleranz und Verdorbenheit zu schützen.
So in etwa lassen sich die vom russischen Kulturministerium ausgearbeiteten Leitlinien unter der Kernthese „Russland ist nicht Europa“ zusammenfassen. Zwar soll das schon jetzt in Kreisen der russischen Intelligenz umstrittene Papier noch diskutiert werden. Aber der Kreml dürfte zu allem entschlossen sein.
„Russland (...) sollte als einzigartige und eigenständige Zivilisation betrachtet werden, die weder zum „Westen“ („Europa“) noch zum „Osten“ neigt“, heißt es in dem Grundsatzpapier. Gleich zu Beginn gibt es dort den Leitsatz von Kremlchef Wladimir Putin: „Unsere Bewegung nach vorn ist nicht möglich ohne eine geistige, kulturelle und nationale Selbstbestimmung. Anders können wir den äußeren und inneren Herausforderungen nicht standhalten.“ Die Rede ist von „globaler Konkurrenz“ - und nicht etwa von Toleranz und gegenseitiger Bereicherung.
Dass Russland gut 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus noch immer auf der Suche nach einer Identität ist und dabei vor allem auf die Kraft der russisch-orthodoxen Kirche setzt, bekommen nicht zuletzt Kulturschaffende zu spüren. Schriftsteller, Musiker und Filmemacher oder Künstler, die nicht auf Putins Linie sind, sehen sich immer wieder ausgeschlossen vom öffentlichen Leben im größten Land der Erde.
Es gab schon Arbeits- und Auftrittsverbote für Kulturschaffende; Morddrohungen gegen den Romancier Wladimir Sorokin; die schrillen Musikerinnen der Frauenband Pussy Riot saßen im Straflager und werden immer wieder attackiert - ohne rechtliche Folgen für die Angreifer. Beispiele für staatlichen Druck auf die Kunst gibt es viele. Allein wie auch immer geartete rechtliche Grundlagen für ein Vorgehen gegen die Kunst gab es bisher nicht.
Wohl auch deshalb soll das unter Kulturminister Wladimir Medinski festgezurrte Leitbild jetzt festlegen, was im Land der Klassiker wie Pjotr Tschaikowski, Leo Tolstoi und Fjodor Dostojewski erwünscht ist und was nicht. Moskaus Machthaber unterstreichen auch im schweren politischen Konflikt um die Ukraine derzeit fast täglich, dass sie drohende internationale Isolation nicht fürchten.
Dass einzelne Prominente wie die Autoren Ljudmila Ulizkaja und Viktor Jerofejew großimperiale Gefühle, wie sie im Zuge des umstrittenen Anschlusses der Schwarzmeerhalbinsel Krim an Russland erwachen, scharf verurteilen, wird kaum wahrgenommen. Kritiker werden in den vom Kreml gesteuerten Medien als Russenfeinde verunglimpft.
In einem solchen Klima gebe es schon immer mehr westliche Kulturschaffende, die Russland jetzt lieber mieden, schreibt etwa die Boulevardzeitung „MK“ in Moskau. Dass aktuell Peter Stein in Moskau die Oper „Aida“ inszeniert und Hamburgs Ballettchef John Neumeier „Die Kameliendame“ einstudierte, lobten viele Russen als mutige Kampfansage, sich nicht abschrecken zu lassen.
Dabei kann sich der Ex-Geheimdienstchef Putin, der als Meister einer Steuerung der öffentlichen Meinung gilt, immer wieder auch über prominenten Rückhalt freuen. Ob von dem Stardirigenten Waleri Gergijew, der als künftiger Chef der Münchner Philharmoniker die Kremlpolitik im Ausland stets verteidigt. Oder von dem Regisseur und Oscar-Preisträger Nikita Michalkow („Die Sonne, die uns täuscht“). Oder von dem französischen Schauspieler Gérard Depardieu, der sich von Putin einen russischen Pass überreichen ließ.
Besorgt angesichts des neuen Kulturleitbildes zeigte sich etwa die Moskauer Zeitung „Wedomosti“ in einem Leitartikel. Die Einschnitte seien von einem „historischen Ausmaß“ - aber völlig überstürzt. Und sogar Putins Berater für Kulturpolitik, der Tolstoi-Ururenkel Wladimir Tolstoi, schlägt warnende Töne an. Die „Freiheit des Schöpferischen“ und das „Verbot der Zensur“ gehörten zu den wichtigsten Errungenschaften der erst 20 Jahre alten Verfassung. Es gehe hier um „unerschütterliche Normen“, mahnte Tolstoi.