Analyse: Schüsse in der Idylle
Ottawa (dpa) - „Mama, mir geht es gut. Ich verstecke mich“, twitterte Michelle Rempel aus Ottawa. Die 34-Jährige ist Abgeordnete im kanadischen Parlament, das am Mittwoch von einem Gewehrschützen angegriffen wurde.
Der Unbekannte hatte zuvor einen Soldaten am nahen Weltkriegsdenkmal erschossen, dann griff er das Parlamentsgebäude an. Oder waren es mehrere? Das war auch Stunden nach der Tat noch unklar. Selbst auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz hüllte sich die Polizei in Schweigen, wenn die Fragen detaillierter wurden. Auch die Hintergründe der Tat, die zwei Menschen das Leben kostete, blieben völlig rätselhaft.
Im Verdacht stehen - erneut - Islamisten. Denn Kanada beteiligt sich am Luftkrieg gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die Syrien und den Irak terrorisieren. Um am Montag hatte ein mutmaßlicher Islamist zwei Soldaten überfahren, einer starb.
Aber vielleicht war es doch nur ein Einzeltäter, noch dazu mit ganz anderem Motiv? „Wir wissen, dass es viele Fragen gibt, und wir werden sie beantworten“, hieß es von der Polizei. „Noch können wir es aber wegen der laufenden Ermittlung nicht.“
Kanadas Regierungsviertel ist beschaulich. Nichts erinnert an das abgeriegelte Weiße Haus oder das zur Festung umgebaute Capitol in Washington. Auch das äußerlich ähnliche Parlament in London ist nicht so einfach zu betreten wie das in Ottawa. Jeden Tag lassen sich Tausende Touristen mit den Wachen fotografieren oder machen eine Tour durch das Gebäude, in dem Fremdenführer mit roter Weste fast alle Türen öffnen. Einige gehen vielleicht sogar zum Denkmal für die Kriegstoten, an dem Soldaten Ehrenwache halten.
Einer dieser Soldaten wurde am Mittwochmorgen (Ortszeit) niedergeschossen. Passanten leisteten Erste Hilfe, doch drei Stunden später starb der Reservist im Krankenhaus. Vom Tatort - so berichteten Augenzeugen - rannte ein mit einem Gewehr bewaffneter Mann davon. Wenig später hallten Schüsse durch die hohen Gänge des Parlamentsgebäudes.
„Mindestens 30 Schüsse während der Sitzung. Wir sind in Sicherheit, aber es ist noch nicht vorbei“, twitterte der Abgeordnete Tony Clement. Während des Angriffs war auch Premier Stephen Harper im Gebäude, er wurde sofort in Sicherheit gebracht. Dann wurde eine weitere Schießerei gemeldet, in einem nahen Einkaufszentrum, das sofort abgeriegelt wurde. Ein paar Stunden später kam Entwarnung: Falscher Alarm.
Die Polizei wies alle Bewohner in dem Viertel an, sich von Fenstern und Dächern fernzuhalten. Häuser wurden durchsucht, Autos angehalten. Auch Stunden nach dem Angriff glich der Parlamentshügel noch einem abgeriegelten Heerlager. Ein Angreifer wurde getötet - aber hatte er Komplizen? Die Polizei sagte zunächst nichts, nicht einmal, was für eine Waffe bei dem Toten gefunden wurde.
Warum Kanada? Das Land gilt als Musterschüler mit Entwicklungshilfe, großem UN-Engagement und fortschrittlicher Politik. Es ist aber auch ein enger Verbündeter der USA - und Harper gilt als Freund Israels. Muslimischen Ländern streckt er zwar immer die Hand aus. Er sagt aber auch deutlich, dass Muslime selbst gegen den Terror aus ihren Reihen vorgehen müssten. In den vergangenen Jahren hat sich das Verhältnis zu muslimischen Ländern abgekühlt.
Die Polizei rief die Kanadier auf, wachsam zu sein. „Wenn Sie etwas Verdächtiges sehen, zögern Sie nicht: Rufen Sie die Polizei.“ Als gebe es die Befürchtung, dass mehr als ein Einzeltäter am Werke ist.