Analyse: Schweigende Mehrheit überrollt „Wutbürger“
Stuttgart (dpa) - Lange Zeit schien es, als könnten die Stuttgarter „Wutbürger“ Berge versetzen. Die erste grün-rote Landesregierung war im Frühjahr eine Sensation in Baden-Württemberg.
Viele sahen den Wahlerfolg auch als ein Ergebnis der Massenproteste von Stuttgart-21-Gegnern. Doch am Sonntag folgte die Ernüchterung: Weder landesweit noch in der Landeshauptstadt erreichten die Gegner des Bahnprojekts eine Mehrheit für den Ausstieg des Landes aus der Finanzierung. Wo waren sie geblieben, die „Wutbürger“?
Die meisten von ihnen waren tatsächlich zur Abstimmung gegangen: Immerhin stimmten am Ende gut 1,5 Millionen Menschen für den Ausstieg. Das waren deutlich mehr als die 1,2 Millionen Stimmen, die die Grünen bei der Landtagswahl im März erreicht hatten. Und ein Vielfaches mehr als die maximal 100 000 Demonstranten, die vor gut einem Jahr gegen den Tunnelbau auf die Straßen gegangen waren.
„Die sogenannten Wutbürger sind zwar eine medial sehr wahrnehmbare, aber zahlenmäßig sehr begrenzte Gruppe“, sagt der Freiburger Politikwissenschaftler Ulrich Eith. Die Projektgegner seien vor der Volksabstimmung mobilisiert worden, aber das deutliche Ergebnis zeige, dass sie nicht für die Mehrheit sprechen. Die vielen Projektbefürworter seien in den Medien aus dem Blickfeld geraten, meint Eith. Das Ergebnis zeige auch, „dass viele das Thema leid sind und endlich eine Entscheidung wollten“.
Der Stuttgarter Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider sieht das genauso: Durchgesetzt habe sich „das, was wir die schweigende Mehrheit nennen“. Obwohl es in den vergangenen Monaten nur vergleichsweise wenige und kleinere Kundgebungen für S21 gab, votierten am Sonntag mehr als 2,1 Millionen Menschen gegen den Ausstieg.
Matthias von Herrmann, Sprecher der „Parkschützer“, die gegen S21 kämpfen, ist überzeugt, die eigenen Leute mobilisiert zu haben: „Ich gehe schon davon aus, dass alle wählen gegangen sind.“ Dass es am Ende nicht gereicht hat, erklärt er so: „Ich denke, dass sich die meisten Leute von den Ausstiegskosten haben verwirren lassen.“
Davon ist auch Brigitte Dahlbender, Landesvorsitzende des Naturschutzverbands BUND, überzeugt: Die „Horrorzahl“ 1,5 Milliarden Euro, die die Bahn als Ausstiegskosten nannte, habe viele verschreckt. Ein weiterer Grund sei die teure Kampagne des Verbands Region Stuttgart gegen den Ausstieg. Mit Werbesummen wie einer Million Euro könnten die Gegner einfach nicht mithalten. Dahlbender zog sich am Montag als Sprecherin des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21 zurück.
Brettschneider geht davon aus, dass die Demonstranten nun an Unterstützung verlieren werden. Schließlich hätten im Vorfeld 95 Prozent bei einer Umfrage angegeben, dass sie das Ergebnis akzeptieren werden. „Eine moralische Überhöhung wie "Wir sind das Volk" gibt viel Kraft. Aber jetzt fehlt diese Basis.“
Die Gegner wollen das Bahnprojekt weiter kritisch begleiten. In welcher Form, ist noch unklar. Den Vorwurf, dass weitere Baublockaden gegen den Mehrheitswillen im Land verstoßen würden, weist von Herrmann zurück. „Es gab eine Mehrheit gegen den finanziellen Ausstieg, nicht für Stuttgart 21.“