Analyse: Von Umbrüchen und neuen Farbenlehren

Berlin (dpa) - Ein hoher Diplomat, neulich zu Besuch in der Heimat. Er konstatiert recht ernüchtert: Deutschland sei in einem seltsamen „Biedermeier-Modus“ verhaftet.

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Eine große Koalition, die den Bürgern wenig abverlangt und soziale Wohltaten verteilt. Eine neue Partei, die den Euro nicht mag und nationale Behaglichkeit verspricht.

Die jüngsten Landtagswahlen zeigen: Die politische Landschaft scheint anno 2014 im Umbruch. Koalitionsoptionen verringern sich - etabliert sich die Alternative für Deutschland (AfD) wie einst Grüne und Linke? Wird das Gelb der FDP durch das Blau der AfD dauerhaft ausgetauscht?

Wendepunkte in der Parteiengeschichte gab es schon einige, mal waren es neue Programme, dann neue Koalitionsmodelle. Das Siechtum einer zum Inventar der Bundesrepublik gehörenden Partei und das Aufkommen einer neuen Kraft ist in dieser Form neu. Ob es ein Wendepunkt ist? Noch nicht ausgemacht. Andere Wegmarken: 1959 macht sich die SPD auf den Weg zur Volkspartei. 1966: Die Union geht mit der SPD die erste große Koalition ein. 1969: Die sozial-liberale Zeit beginnt.

1982/83: 16 Jahre Schwarz-Gelb beginnen, die Grünen ziehen in den Bundestag ein. 1990: Die PDS etabliert sich, daraus wird 2007 die Linke. 1998: Erstmals Rot-Grün im Bund. 2013: Die FDP fliegt aus dem Bundestag. Daher sitzen nun die 311 Unionsabgeordneten im Plenarsaal erstmals rechts.

Vielleicht nur noch bis 2017. Für den Berliner Politikprofessor Oskar Niedermayer ist die AfD weit mehr als eine Protestpartei. Sie sei eine Andockmöglichkeit für Bürger, die das Gefühl „Früher war alles besser, sicherer und ruhiger“ umtreibe. „Natürlich spielen da Globalisierungsängste eine Rolle“, meint Niedermayer. Und die AfD spiele zugleich auch noch die Klaviatur der Marktliberalen. Die FDP hingegen verschwinde aus den Köpfen der Bürger. Er warnt vor einer Verteufelung der AfD und ihrer Wähler - und rät insbesondere der Union zur inhaltlichen Auseinandersetzung. Auch in Talkshows.

Die FDP saß von 1949 bis 2013 immer im Bundestag, von 1961 bis 1983 sogar als einzige Fraktion neben Union und SPD, dann kamen 1983 die Grünen hinzu, 1990 dann noch die PDS. Seither gab es fünf Fraktionen im Bundestag - mit Ausnahme 2002 bis 2005, als nur zwei direkt gewählte PDS-Politikerinnen im Bundestag saßen, die Partei aber an der 5-Prozent-Hürde gescheitert war. Nun sind es aktuell nur noch vier Fraktionen. Da aber ähnlich wie mit der Linken bisher niemand mit der AfD koalieren will, verengen sich für die restlichen Parteien die Optionen. Lagerwahlkämpfe sind daher nicht immer zeitgemäß. So weiß der Wähler immer weniger, was er nach der Wahl bekommen wird. Die SPD in Thüringen ist dafür gerade bitter abgestraft worden.

Vielleicht sollte FDP-Chef Christian Lindner einen Antrag stellen, dass bei der Bundestagswahl 2017 wieder die Regelung von 1949 eingeführt wird. Nie wieder gab es so viele Parteien im Bundestag wie in der ersten Legislaturperiode. Zehn an der Zahl. Weil nicht bundesweit die 5-Prozent-Hürde übersprungen werden musste, sondern nur in einem Bundesland - und schon zog man in den Bundestag ein.

Niedermayer hat ein Schaubild angelegt, das zeigt, welche Konstanten es bisher in der Parteiengeschichte seit 1949 gab: CDU, CSU, SPD, FDP - andere wie Bayernpartei oder Zentrum sind auch seither bei allen Wahlen angetreten, aber eher erfolglos. Die ersten Jahre waren Schwarz-Gelb. Dann warf die SPD ideologischen Ballast ab, erkannte die Notwendigkeit einer Annäherung an Katholiken und Mittelschicht. Mit dem Programm von Bad Godesberg 1959 schlug sie den Weg Richtung Volkspartei ein. 1966 konnte die SPD erstmals mitregieren - schon damals stärkte die große Koalition aber auch die Ränder.

Die 1964 gegründete NPD schaffte bei der Landtagswahl 1968 in Baden-Württemberg 9,8 Prozent, bei der Bundestagswahl 1969 verpasste sie mit 4,3 Prozent nur knapp der Einzug. Dann aber zerlegte sich die NPD selbst - letztlich hängt die Konsolidierung einer Partei in hohem Maße von Personal, Disziplin und Glaubwürdigkeit ab.

Übrigens: Die Union wollte damals das Mehrheitswahlrecht einführen, das hätte Verhältnisse wie in den USA oder Großbritannien ermöglicht, wo mal Konservative und mal Sozialdemokraten regieren. Die FDP hätte das marginalisiert - auch weil die SPD dies abwehrte, konnte die FDP 1969 für das erste sozial-liberale Bündnis gewonnen werden.

So wie die Linke im Zuge eines - von den Gegnern der Agenda- und Hartz-Reformen so empfundenen - Verrats an sozialdemokratischen Idealen erstarkte, scheint die AfD von vielen als Gralshüterin der reinen konservativen Lehre gesehen zu werden. Es ist eine gewisse Ironie, dass diese Entwicklung SPD wie CDU/CSU noch stärker aneinanderketten könnte. Verdichtet sich ein Bündnis der beiden größten Kontrahenten, das eigentlich eine Ausnahme sein soll, plötzlich zum Dauerzustand?

Noch nie in der bundesrepublikanischen Geschichte gab es so viele schwarz-rote oder rot-schwarze Länderbündnisse im Bundesrat, der 51 Prozent aller Gesetze zustimmen muss. Das bedeutet häufig eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners statt großer Reform. In Krisenzeiten aber bieten sie auch nötige Stabilität. Fakt ist: Die Union hat ihren langjährigen Partner, die Liberalen, vorerst verloren. Durch das Erstarken der AfD entsteht eine Lage, die Koalitionsmehrheiten für Union und Grüne schwieriger macht. Dann bleibt der Union nur die SPD, die ihrerseits die Sorge umtreibt, wo sie eine Machtperspektive hat.

Die Grünen entstanden einst im Zuge der aufkommenden Anti-Atom- und Umweltbewegung. Die Linke ist bis heute vor allem in Ostdeutschland stark. Die AfD verspricht andere Antworten als das Establishment, etwa in der Euro-Krise, bei der Zuwanderung und beim Anpassungsdruck im Zuge der Globalisierung. Die große Frage ist nun, ob sie sich 2015 mit nur zwei Wahlen in Hamburg und Bremen konsolidieren kann - oder wie einst die Piraten mit Querelen und Personalstreit selbst zerlegt.

Wenn die AfD-Parteiführung die Kraft habe, „die Radikalen auszusortieren“, dann werde sich die AfD bis zur Bundestagswahl 2017 nicht von selbst erledigen, warnt CSU-Chef Horst Seehofer. Er glaubt nicht an ein kurzfristiges Phänomen wie die Piraten - der AfD gelingt es, bei Wählern von CDU/CSU bis zu den Linken zu wildern. 2017 könnte die AfD als erst dritte „neue“ Partei überhaupt den Einzug schaffen. Kanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel stehen unangenehme Debatten ins Haus.