Analyse: Vor dem EU-Gipfel liegen die Nerven blank
Brüssel/Berlin (dpa) - Telefongespräche, hektische Krisendiplomatie, Minister-Besuche in der letzten Minute: Vor dem Brüsseler EU-Gipfel an diesem Donnerstag und Freitag liegen wieder einmal die Nerven blank.
Zu Wochenbeginn mussten gleich zwei Euroländer einen Bittbrief für Milliardenhilfen nach Brüssel schreiben: Spanien und Zypern. Madrid braucht für seine maroden Banken bis zu 100 Milliarden Euro, in Nikosia ist von bis zu 10 Milliarden Euro die Rede.
Wie schon bei den vorherigen Spitzentreffen wird es jedoch den großen Befreiungsschlag nicht geben. Zwar muss die Eurozone in einem riesigen Kraftakt ihr Haus mit 17 Staaten in Ordnung bringen, das heißt Schulden abbauen und die Wirtschaft wettbewerbsfähiger machen. Aber das braucht Zeit.
EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy legt einen Fahrplan für die Vertiefung der Währungsunion vor, um den Weg abzustecken - im Endstadium auch mit gemeinsamen Schulden. Einer der Co-Autoren der Vorschläge, EU-Kommissionschef José Manuel Barroso, meinte am Dienstag: „Die Welt erwartet, dass sich Europa zu glaubwürdigen und konkreten Lösungen verpflichtet, um vereinter und integrierter zu werden.“
Frankreichs Staatspräsident François Hollande pochte lange auf ein „Wachstumspaket“: Er soll es beim Spitzentreffen bekommen, mit einem Umfang von etwa 130 Milliarden Euro. Das ist aber meistenteils kein „neues Geld“ - so sollen rund 55 Milliarden Euro aus vorhandenen Brüsseler Mitteln für die Regionalförderung kommen. Die „Chefs“ werden auch die neue Finanzsteuer auf den Weg bringen - allerdings nur in einem exklusiven Kreis. Deutschland, Frankreich oder Österreich ziehen zwar in einer Gruppe von neun bis zehn Staaten mit - doch es sind noch nicht einmal alle Euroländer dabei.
Besonders aufmerksam wird auch diesmal wieder der Auftritt von Bundeskanzlerin Angela Merkel beobachtet werden. Sie weiß es selbst: „In Brüssel werden sich, da bedarf es keiner kühnen Prognose, wieder viele oder sogar alle Augen auf Deutschland richten.“
Dabei kommt Merkel nicht unbelastet nach Brüssel. Zu Hause steht die Ratifizierung von Fiskalpakt und ESM-Rettungsschirm am Freitag unmittelbar bevor. Die Zugeständnisse an Opposition und Bundesländer waren kostspielig. Dass wegen zahlreicher Einsprüche beim Bundesverfassungsgericht der Fiskalpakt ausgerechnet als Folge deutscher Verzögerungen nicht wie geplant in Kraft treten kann, ist mehr als ein Schönheitsfehler.
Schlimmer noch: Die möglichen Einwände der Karlsruher Richter und die Ankündigung des Bundespräsidenten, den Fiskalpakt zunächst nicht zu unterzeichnen, haben eine Debatte über die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Europapolitik ausgelöst. Sie trifft einen zentralen Punkt: Die Eurokrise hat für viele deutlich gemacht, dass nur „mehr Europa“, also eine weitere Verlagerung von Kompetenzen nach Brüssel, das europäische Projekt stabilisieren kann.
Dies ist aber auf der Basis des Grundgesetzes kaum zu machen. Und Merkel weiß, dass der zweite Schritt nicht vor dem ersten getan werden kann: „Wenn ich an den Rat am Donnerstag denke, dann treibt mich die Sorge um, dass dort schon wieder viel zu viel über alle möglichen Ideen für eine gemeinschaftliche Haftung und viel zu wenig über eine verbesserte Kontrolle und Strukturmaßnahmen gesprochen wird.“
Auf positive Signale hofft Merkel deshalb aus Paris, wenn sie dort am Mittwochabend mit Hollande zusammentrifft. Der hält zwar an seiner Forderung nach Eurobonds fest, aber er besteht nicht auf einer raschen Umsetzung. Der Sozialist hat nach seinem Wahlsieg innenpolitisch alle Macht in Händen - theoretisch. Die schlechten Wirtschaftsdaten beschränken seinen Handlungsspielraum dennoch. Mit dem in Rom vereinbarten Wachstumspaket könnte er zufrieden sein. Beim Rest sind Hollande und Merkel dann in Brüssel vielleicht gar nicht so weit voneinander entfernt.