Analyse: Was Merkel ansprach und Wen nicht hörte
Berlin (dpa) - Die Aufforderung der Kanzlerin zu Pressefreiheit und fairem Umgang mit Regimekritikern kann Wen Jiabao einfach nicht hören. Just als Angela Merkel die Freilassung des Künstlers Ai Weiwei und des Bürgerrechtlers Hu Jia würdigt, fummelt Chinas Ministerpräsident so lange an seinem Kopfhörer für die Übersetzung herum, bis er vom Ohr fällt.
Merkel setzt erneut an: Ai und alle anderen Betroffenen müssten ein transparentes Verfahren bekommen. Als sie sich bessere Bedingungen für Journalisten in China wünscht, hängt die kleine Ohrmuschel bei Wen wieder auf Halbmast. Merkel verlangt nach einem neuen Kopfhörer und wiederholt ihren Appell. Aber Wen hat den falschen Kanal eingeschaltet und somit keine Übersetzung.
Der 68-jährige gilt als höflicher Mann. Dass er gerade bei dieser heiklen Passage der gemeinsamen Pressekonferenz im Kanzleramt nicht verstehen kann, was die Gastgeberin sagt, mutet kaum wie ein Zufall an. Leicht genervt vergewissert sich Merkel: „Ist das jetzt verständlich?“ Man vernimmt noch ein leises Murmeln: „Meine Güte“. Dann fährt sie mit den Chancen der kulturellen Zusammenarbeit fort.
Die deutsch-chinesischen Beziehungen haben mit den ersten gemeinsamen Regierungskonsultationen am Dienstag in Berlin eine neue Qualität erreicht. Das Verhältnis der beiden starken und so unterschiedlichen Volkswirtschaften kann dadurch weiter verbessert werden. In der Wirtschaft läuft es schon lange gut. Schnell geht es hier in die Milliardenbeträge. So wie auch am Dienstag wieder mit Abkommen im Volumen von rund 10,5 Milliarden Euro.
Wäre da nicht die leidige Frage der Menschenrechte. Entgegen den Erwartungen spricht die Bundeskanzlerin speziell die Lage von Ai Weiwei und Hu Jia öffentlich an. Die Familien der beiden aus der Haft entlassenen Aktivisten befürchten, dass die Männer mundtot gemacht werden sollen. Merkel scheut sich nicht, die Fälle vor laufenden Kameras zum Thema zu machen. Und egal, was Wen davon live mitbekommen hat - verborgen wird es ihm nicht geblieben sein. Er hat seine Erfahrung mit der deutschen Regierungschefin, die zu seiner Empörung den Dalai Lama 2007 ins Kanzleramt eingeladen hatte.
Zwei Worte fallen häufig in diesen deutsch-chinesischen Stunden: Strategie und Vertrauen. Merkel sagt: „Es wird ein neues Kapitel aufgeschlagen in den deutsch-chinesischen Beziehungen, die strategischer Natur sind.“ Wen betont: „China sieht in Deutschland einen ganz wichtigen strategischen Partner.“ China verspricht sich einen besseren Zugang zu deutscher Hochtechnologie und eine weitere Türöffnung für Europa. Deutschland setzt auf Milliarden-Aufträge für die Wirtschaft. Merkel weiß, wie sehr auch andere Länder mit der neuen Weltmacht China Geschäfte machen wollen. Allen voran die USA.
China ist auch wichtig als Helfer in der Not des Euro. Peking kaufte bereits umfangreich Staatsanleihen hoch verschuldeter Euro-Länder. Und Wen versucht zu trösten: „Die Schwierigkeiten in Europa sind nur von vorübergehender Natur.“ China habe ein so großes Vertrauen in Europa, weil es dort so wirtschaftlich starke Staaten wie Deutschland gebe. Und nur mit Vertrauen könnten Probleme überwunden werden. Der Ministerpräsident spricht viel von Vertrauen. „Vertrauen ist wichtiger als die Währung, ist wichtiger als Gold.“
Gefallen hat Wen offensichtlich, dass sich Deutschland im UN-Sicherheitsrat bei der Libyen-Resolution gegen das Ja westlicher Verbündeter gemeinsam mit China enthalten hat. „Sie haben den Mut, weltweit einen gewissen Druck auf sich zu nehmen“, sagt er zu Merkel.
Sie probt aber nicht den Schulterschluss, sondern verweist auf die Legitimität des von China kritisierten Militäreinsatzes angesichts der UN-Resolution 1973. Sie verschweigt auch nicht, dass sie sich eine schnellere Reaktion Chinas im Falle Irans gewünscht hätte. „Wir werden auch in Zukunft viel gemeinsam zu besprechen haben“, macht sie freundlich die Differenzen deutlich. Eine Gemeinsamkeit erwähnt sie aber noch: „Wir haben beide mittwochs Kabinettssitzungen“.
Wen sagt: „In manchen Fragen sind wir nicht immer der gleichen Auffassung, aber ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir uns respektieren und gleichbehandeln.“ Die „Freunde aus den Reihen der Medien“ lädt er ein, öfter nach China zu reisen - „und zu einer besseren Zusammenarbeit unserer beiden Völker beizutragen“.
Dass sich Merkel bessere Arbeitsbedingungen für Journalisten - etwa weniger Repressalien und Einschüchterung durch Sicherheitskräfte - wünscht, hatte er ja überhört. Merkel führt ihn dann schnell aus der Halle im Kanzleramt, als ein Fernsehreporter einer Satire-Sendung ruft: „Freie Fahrt für die Wirtschaft - was braucht man da die Menschenrechte?“ Jetzt könne man ihn abführen, sagt der Reporter. Die Sicherheitsbeamten des Kanzleramts reagieren gelassen. Sie ignorieren ihn.