Analyse: Wieder muss ein Verfassungsschutz-Chef gehen

Dresden (dpa) - Wie sicher sind Führungsposten in diesen Tagen beim deutschen Geheimdienst? So mancher Verfassungsschützer dürfte sich eher auf einem Schleudersitz wähnen.

Denn die Aufklärung der Mordserie der Zwickauer Neonazi-Terrorzelle bringt immer wieder Ungereimtheiten an den Tag. Auch wenn Versäumnisse bei den Ermittlungen gegen den „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) in der Regel nicht den Behördenchefs anzulasten sind, tragen diese dennoch für ihre Mitarbeiter die Verantwortung.

Und so musste am Mittwoch ein weiterer Mann aus der Führungsriege seinen „Schlapphut“ nehmen: Der Präsident des sächsischen Verfassungsschutzes, Reinhard Boos, stolperte über einen überraschenden Aktenfund im eigenen Haus und bat um seine Versetzung.

In der Vorwoche hatte sich Boos an der Seite des sächsischen Innenministers Markus Ulbig (CDU) noch eher lässig präsentiert. Die Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes für den Freistaat gipfelte in einer Befragung nach möglichen Versäumnissen des sächsischen Geheimdienstes und der Polizei bei den Ermittlungen zur Gruppierung NSU. Schließlich hatte das Trio mit Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe jahrelang unerkannt in Sachsen gewohnt und von hier aus eine blutige Spur durch das ganze Land gezogen.

Boos wurde gefragt, ob er sich nach den Abgängen seiner Amtskollegen auf Bundesebene und in Thüringen nicht langsam einsam fühle: „Wie ich mich fühle? Wunderbar“, sagte der Jurist.

Dieses Gefühl dürfte nun einem jähen Erwachen gewichen sein - so wie beim überraschenden Rückzug des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm. Der hatte um seine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand gebeten, weil in seinem Amt wichtige Akten faktisch hinter seinem Rücken geschreddert worden waren. Kurz darauf hatte es auch Thüringens Verfassungsschutzchef Thomas Sippel erwischt.

Im sächsischen Landesamt für Verfassungsschutz fand man nun nach bisheriger Lesart mehr zufällig im Schrank eines Mitarbeiters Akten, die dort gar nicht hätten sein dürfen. 1998 hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz bei den Kollegen in Sachsen eine Telefonabhörung in Auftrag gegeben, die einen „Bezug zum NSU-Komplex“ hatte - wie es heißt.

Ulbig ging am Mittwoch davon aus, dass die Protokolle damals umgehend dem Bundesamt wieder zuzuleiten waren oder inzwischen den Weg in den Reißwolf hätten finden müssen. Ob die Akten aus purer Schlamperei in Dresden blieben, vermochte er nicht zu sagen.

Der Vorgang zeigt, wie berechtigt immer wieder gestellte Fragen sind nach Regularien, Dienstanweisungen und ihrer Kontrolle beim Geheimdienst in Deutschland. Und der Fall wirft erneut Fragen auf nach Hierarchien und der Zusammenarbeit der Behörden. Gibt es bundesweit einheitliche Standards oder macht am Ende jeder sein Ding? Zudem ist er Wasser auf die Mühlen von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU). Der hatte unlängst von dringendem Reformbedarf im Verfassungsschutz gesprochen und dabei die Zusammenarbeit der einzelnen Landesämter gemeint.

Solche Erkenntnisse spielen vor allem jenen Kritikern des Verfassungsschutzes in die Hände, die im Geheimdienst ohnehin einen unkontrollierbaren „Staat im Staate“ sehen und die Behörde am liebsten ganz abschaffen würden. Auch in Sachsen ist nun eine Debatte darüber entbrannt, welche Struktur des Landesamt in Zukunft haben soll und wo es organisatorisch anzubinden ist.

Eines steht für Ulbig aber fest: „Ich halte den Verfassungsschutz als Säule in der Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor für unverzichtbar. Aber wir brauchen einen Philosophiewechsel“, sagte er in der vergangenen Woche mit Blick auf die Kooperation der Behörden. Nach dem Aktenfund in seinem Verantwortungsbereich muss er nun erstmal im eigenen Amt ausmisten.