„Wie ein Kriegsgebiet“ Anarchie im Schanzenviertel überschattet G20-Gipfel
Hamburg (dpa) - „Das ist wie ein Kriegsgebiet, das ist einfach nur Wahnsinn“, sagt Daniel Krohn erschüttert, als er sich die Spuren der Zerstörung ansieht. Der 42-Jährige lebt im linken Schanzenviertel und ist von den 1.-Mai-Demos Krawalle vor dem von Autonomen besetzten Kulturzentrum „Rote Flora“ eigentlich gewohnt.
Aber die Orgie purer Gewalt, die zuvor über Stunden die Straße zu einer rechtsfreien Zone machte, kann er einfach nicht begreifen: „Das Level der Gewalt will nicht in meinen Kopf gehen.“
Der Vergleich mit einem Kriegsgebiet mag übertrieben sein, aber wie Krohn geht es vielen Anwohnern, die sich am Morgen nach den schwersten Ausschreitungen in Hamburg seit Jahrzehnten die Schneise der Verwüstung ansehen. Geschäfte im Schulterblatt sind geplündert, überall liegen herausgerissene Pflastersteine und Scherben, letzte kleine Flammen schlagen aus den von Linksautonomen in Brand gesteckten Barrikaden aus Mülleimern, Fahrrädern und Gerüstplatten.
„Das ist eine Schweinerei und hat nichts mit G20 zu tun“, sagt Anwohnerin Mareike (31), die die Nacht bei Freunden verbracht hat. Die Lage im Schulterblatt war ihr zu heiß. Und nun? „Ich will gucken, ob bei mir zuhause alles in Ordnung ist.“
In einem sind sich die Bewohner des Schanzenviertels einig: Den Gipfel in ihre Stadt zu holen, war ein Fehler. „So denkt die ganze Bevölkerung“, sagte Anwohner Horst (73). Er beobachtet vor seinem Stammbäcker mit einem Kaffee in der Hand, wie die Stadtreinigung mit einer Baggerschaufel den Unrat entfernt. Die Krawalle seien vorprogrammiert gewesen, sagt Horst.
Besonders schlimm hat es in der Straße Schulterblatt - dem Zentrum des Gewaltexzesses - auch eine Filiale der Drogeriekette Budnikowsky erwischt. Budnikowsky-Chef Cord Wöhlke ist fassungslos, als er über Scherben und zerstörte Waren läuft und das Ausmaß der Schäden begutachtet. „Ich habe so etwas noch nicht erlebt. (...) Das ist auch eine Tragödie für Hamburg“, sagt Wöhlke und ist sicher: „Diese Bilder bleiben von G20 übrig (...) und verdrängen alles andere.“
Während des G20-Treffens der führenden Wirtschaftsmächte spielten sich in der Nacht zuvor in der ganzen Straße schockierende Szenen ab. Immer wieder brennen Barrikaden, Autonome zerschlagen Fensterscheiben mit Pflastersteinen, brechen in Geschäfte ein, plündern Läden, tragen alles raus, zerfetzen das Mobiliar, um es unter dem Jubel Schaulustiger auf der Straße ins Feuer zu werfen. Es brennt lichterloh.
Grässliche Bilder aus dem „Tor der Welt“ gehen um die Welt. Es ist bereits die zweite Krawallnacht in Folge. Aber die Heftigkeit dieses Abends ist besonders. Drei Stunden lang herrscht in der „Schanze“, wie das Viertel genannt wird, der Mob. Kleine Läden in der Straße werden nicht angegriffen, nur große Ketten. Unter der Bahnbrücke wird eine Gruppe Polizisten von Autonomen eingekesselt, sie sind lange auf sich allein gestellt.
Beamte sperren das Schulterblatt ab, Hundertschaft um Hundertschaft marschiert hinein, auch Spezialkräfte. Stundenlang kreisen Hubschrauber mit Suchscheinwerfern über dem Viertel.
Die Nerven liegen zum Teil blank. An einem Fußübergang schreit eine Frau einen Polizisten an, der sie nicht über die Straße gehen lassen will. Hinter ihm passiert ein Mannschaftswagen nach dem anderen die Stelle. „Ihr habt gar nichts im Griff“, pöbelt die Frau. „Das kotzt mich an.“ Der Polizist kontert: „Willst du überfahren werden?“
Ein paar hundert Meter weiter zerschlagen Autonome den Asphalt mit Hämmern, um sich Wurfgeschosse zu basteln. Als sie Blumenkübel für Barrikaden auf die Straße ziehen, brüllt einer Anwohnerin los: „Ihr seid so scheiße! Ihr seid so scheiße!“
Als die Polizei endlich massiv einschreitet, gibt es aber auch andere Reaktionen: Aus dem ersten Stock eines Hauses wirft ein älterer Mann den Autonomen Wasserflaschen herunter, damit sie sich das Pfefferspray der Beamten aus den Augen spülen können. Gut drei Stunden lang braucht die Polizei, bis sie mit den Gewaltexzessen aufgeräumt hat.
Noch am 23. Juni hatte sich Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) überzeugt gezeigt, dass solche grässlichen Bilder verhindert werden können. „Es wird Leute geben, die sich am 9. Juli wundern werden, dass der Gipfel schon vorbei ist.“ Die Hamburger Polizei zeigt sich schockiert über die Krawalle. „Wir haben noch nie so ein Ausmaß an Hass und Gewalt erlebt“, sagt Sprecher Timo Zill bei „Bild Daily“.
Die Krawalle an diesem ersten Tag des G20-Treffens waren aber lediglich der Schlussakt nach einem Tag voller anarchischer Szenen. Nach morgendlichen weitgehend friedlichen Protesten im Hafen sammelten sich am Nachmittag tausende G20-Gegner am Millerntorplatz. Ihr Ziel ist klar: Alle wollen zur Elbphilharmonie, wo sich gegen Abend die Staats- und Regierungschefs zu einem klassischen Konzert einfinden werden. Als sie losmarschieren, eilt auch die Polizei zu den Landungsbrücken und schneidet den nach Veranstalterangaben 5000 Demonstranten den Weg ab. Schon dort werfen Vermummte Steine auf eine Hotelfront.
Es kommt zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Böller krachen. Die Beamten können die Demonstranten zurückdrängen. Auf der Elbe versuchen Aktivisten von Greenpeace nahezu zeitgleich, mit Booten in die Sicherheitszone einzudringen. Es bleibt aber klar: In diese Zone kommt kein Demonstrant. Doch während in der Elbphilharmonie Beethovens „Freude schöner Götterfunken“ erklingt, gehen draußen die Krawalle erst so richtig los.