Unruhen eskalieren Beim „Marsch der Rückkehr“ entlädt sich der Druckkessel Gaza
Gaza/Tel Aviv (dpa) - Hunderte Palästinenser im Gazastreifen stehen dicht gedrängt auf einem Feld nahe der Grenze zu Israel. Eine riesige, schwarze Rauchwand türmt sich hinter ihnen auf und versperrt die Sicht auf die andere Seite.
Der stinkende Rauch macht das Atmen schwer. Viele tragen selbstgebastelte Schutzmasken. „Ich bin hier, um meine Heimat zu verteidigen, meinen Traum von einer Rückkehr zu erfüllen und die Besatzer von meinem Land zu vertreiben“, sagt der 22-jährige Walid Abu Bakra.
Es ist der zweite Freitag seit Beginn der Aktion „Marsch der Rückkehr“ im Gazastreifen. Mehr als zwei Dutzend Palästinenser sind seit Karfreitag beim schlimmsten Gewaltausbruch seit dem Gaza-Krieg 2014 getötet und weit über 2000 verletzt worden.
Der 21-jährige Student Mohammed al-Hosari aus Gaza sagt: „Ich nehme an den Märschen teil, um der Welt zu sagen, dass wir legitime Rechte haben, vor allem das Recht auf Rückkehr.“ Er stamme von palästinensischen Flüchtlingen aus Jaffa ab - heute ein Stadtteil der israelischen Küstenmetropole Tel Aviv. Israel lehnt eine Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge und ihrer Nachkommen aber kategorisch ab, weil es aus seiner Sicht die Zerstörung des jüdischen Staates bedeuten würde. „Wir sind keine Armee und ich weiß, dass wir Israel nicht besiegen können“, sagt der junge Mann. Er sei daher für friedliche Proteste und hoffe, „dass unsere Botschaft die Welt erreicht“.
Seit vergangenem Jahr warnen Menschenrechtsorganisationen immer wieder eindringlich, die Lebensumstände der rund zwei Millionen Einwohner im Gazastreifen seien unerträglich. Nach mehr als einem Jahrzehnt der Blockade durch Israel und Ägypten ist die Lage denkbar miserabel: Das Trinkwasser wird knapp und es gibt nur stundenweise Strom.
Dazu kommt die Wut über die Politik Israels und seines mächtigen Verbündeten Amerika. Bis Mitte Mai sind für jeden Freitag massive Proteste geplant - denn Israel feiert in diesem Jahr seinen 70. Jahrestag der Gründung 1948. Die Palästinenser sehen darin eine Katastrophe, weil damals Hunderttausende Palästinenser fliehen mussten oder vertrieben wurden. Ein weiteres rotes Tuch: Die USA wollen am 14. Mai die US-Botschaft in Jerusalem eröffnen.
Mit den Massenprotesten macht sich der Zorn der Einwohner des Küstengebiets Luft. Die Hamas, die 2007 die alleinige Kontrolle im Gazastreifen gewaltsam an sich gerissen hatte, reitet mit auf der Welle der Proteste. Die radikalislamische Organisation, die sich die Zerstörung Israels auf die Fahne geschrieben hat, kann grundlegende Bedürfnisse der Bevölkerung nicht mehr erfüllen.
Israelische Repräsentanten sehen die Proteste als Versuch der Hamas, den Volkszorn gegen Israel zu kanalisieren. „Die Hamas steht mit dem Rücken zur Wand“, sagt der israelische Armeesprecher Arye Shalicar. Sie sei zunehmend isoliert und Versöhnungsgespräche mit der rivalisierenden Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, von der sie sich eine Aufhebung der Blockade erhofft hatte, seien „ins Leere gelaufen“. Shalicar sagt: „Natürlich kocht es im Gazastreifen. Die Bevölkerung ist unzufrieden.“ Die jüngste Eskalation sei ein „Versuch, von inneren Problemen abzulenken“.
Israels Armee wirft der Hamas vor, sie missbrauche die Proteste für Anschläge am Grenzzaun. Israels Alptraum: Bewaffnete Palästinenser durchbrechen die Grenze und stürmen in israelische Ortschaften - einige davon liegen in unmittelbarer Nähe zum Gazastreifen.
Der „Marsch der Rückkehr“ war zwar erst als friedlicher Protest deklariert worden. Doch schon zu Beginn verkündete der Gaza-Chef der Hamas, Jihia al-Sinwar, die Proteste sollten solange dauern, „bis wir diese vorübergehende Grenze entfernen“. Man werde weitermachen, „bis die Palästinenser in das Land zurückkehren, aus dem sie vor 70 Jahren vertrieben wurden“.
Hamas-Führer Mahmud Al-Sahar tauchte am Freitag bei einer Demonstration östlich von Gaza auf. „Wir werden sehen, ob die Welt unsere Botschaft erhält und Druck auf Israel ausübt, die Verbrechen gegen unser Volk zu stoppen“, ruft er. Andernfalls „werden wir gezwungen sein, unsere Waffen zu benutzen“.
Angesichts der vielen Toten und Schussverletzten geriet Israel in die Kritik. Nach Einschätzung des UN-Menschenrechtsbüros gibt es „starke Hinweise“ darauf, dass die israelischen Sicherheitskräfte übertriebene Gewalt einsetzten. Die Menschenrechtsorganisation Betselem rief israelische Soldaten dazu auf, nicht auf Teilnehmer der palästinensischen Proteste zu schießen und notfalls den Befehl zu verweigern.
Der israelische Reserve-Brigadegeneral Nitzan Nuriel hielt dagegen, die Hamas nehme den Verlust von Menschenleben billigend in Kauf, um Medienaufmerksamkeit zu bekommen. „Sie wollen, dass es so lange wie möglich dauert und so blutig wie möglich wird“, sagte er.