Gericht der Superlative Das UN-Tribunal schrieb Rechtsgeschichte

Den Haag (dpa) - 161 Angeklagte, fast 11 000 Prozesstage, sechs Mal die Höchststrafe: Lebenslang. Das UN-Kriegsverbrechertribunal zum früheren Jugoslawien ist ein Gericht der Superlative.

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Am 29. November spricht es sein letztes Urteil. Fast ein Vierteljahrhundert nach seiner Gründung kann das Den Haager Gericht eine positive Bilanz ziehen.

Als der Weltsicherheitsrat 1993 das UN-Tribunal einrichtete, war das kaum mehr als eine leere politische Geste. Die Weltgemeinschaft hatte im Krieg in Bosnien-Herzegowina (1992-1995) versagt und das Blutvergießen weder verhindern noch stoppen können. Das schlimmste Verbrechen auf europäischem Boden nach 1945 sollte sogar erst zwei Jahre später verübt werden: der Völkermord von Srebrenica.

Das UN-Tribunal war das erste internationale Gericht für Urteile wegen Kriegsverbrechen in Europa nach 1945. Doch es gab keinerlei Aussicht, dass jemals einer der Hauptschuldigen auch tatsächlich angeklagt werden würde. „Noch bei meinem Amtsantritt 2008“, so erinnert sich Chefankläger Serge Brammertz, „glaubte niemand, dass wir Karadzic oder Mladic bekommen würden.“

Doch es kam anders. Ex-Serbenführer Radovan Karadzic wurde 2008 an Den Haag ausgeliefert. 2016 wurde er unter anderem für den Völkermord von Srebrenica zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt. Der militärische Chef der bosnischen Serben, Ratko Mladic, war 2011 gefasst worden. Gegen den Ex-General verhängten die Richter erst in der vergangenen Woche die lebenslange Haftstrafe.

Heute steht niemand mehr auf der Fahndungsliste des UN-Gerichts. Zu den 84 Verurteilten gehören die militärisch und politisch Verantwortlichen der schlimmsten Verbrechen.

Damit erfüllte das Tribunal einen wichtigen Auftrag. Es zog diejenigen zur Rechenschaft, „die für die Verbrechen militärisch oder politisch die höchste Verantwortung tragen“. Keiner konnte sich hinter seinem Amt verstecken oder auf Immunität berufen. Auch kein Staatschef. 2001 war der ehemalige Präsident Rest-Jugoslawiens, Slobodan Milosevic, angeklagt worden. Der Prozess wurde nicht abgeschlossen, Milosevic starb 2006 an Herzversagen in seiner Zelle.

Auch wenn Milosevic nicht verurteilt werden konnte - das Tribunal schrieb Rechtsgeschichte. „Es hat das internationale Strafrecht verändert“, sagt Chefankläger Brammertz. Es hat die Verantwortlichkeit für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen eingehend definiert.

Eines der größten Verdienste ist für den Ankläger die Anerkennung von Sexualgewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. „Vergewaltigungen wurden früher als eine Art Kollateralschaden des Krieges hingenommen“, sagt Brammertz. „Damit hat das Tribunal Schluss gemacht.“ Bei 70 Prozent der Verbrechen ging es auch um Sexualgewalt.

Der Erfolg des Gerichtes aber wäre ohne politischen Druck undenkbar gewesen. Nur unter Druck der USA und der EU hatte Serbien mit dem Gericht zusammengearbeitet, wurden die Haupttäter ausgeliefert.

Doch ein anderes Ziel wurde verfehlt. In Den Haag wurden nur die Hauptschuldigen zur Rechenschaft gezogen. Doch nicht nur in Serbien, auch in Bosnien, Kroatien und Montenegro laufen noch viele mutmaßliche Kriegsverbrecher frei herum.

Die Zusammenarbeit mit Serbien sei nach wie vor schleppend bis schlecht, sagt Brammertz. Er bleibt als Chefankläger in Den Haag bei dem sogenannten Mechanismus für internationale Straftribunale (MICT), das die noch laufenden Berufungsverfahren abwickeln soll.

Auch von Versöhnung auf dem Balkan kann kaum die Rede sein. „Kein Urteil eines Richters kann Versöhnung bewerkstelligen“, sagt Brammertz. Versöhnung müsse aus den Gemeinschaften selbst kommen. „Und wenn ich die Politiker sehe im früheren Jugoslawien, dann bin ich nicht sehr optimistisch.“

Vor allem in Serbien werden Verbrechen geleugnet und verurteilte Täter wie Ex-General Mladic als Helden verehrt. Das UN-Tribunal wird in der nationalistischen Propaganda als „Organ des Westens“ und antiserbisch verteufelt.

Dabei ist gerade das allerletzte Urteil des UN-Gerichts ein Beweis seiner Unabhängigkeit. Vor den Richtern stehen sechs ehemalige politische und militärische Führer der bosnischen Kroaten. Ihnen drohen Gefängnisstrafen bis zu 25 Jahren.