London hat sich arg verrechnet Schlechte Stimmung im Brexit-Land

London/Brüssel (dpa) - Die Stimmung in Großbritannien ist gedrückt. Mit jedem Tag, den der Brexit näher kommt, wird deutlicher: Der Weg zum Austritt aus der Europäischen Union ist nicht nur steinig, sondern mit großen Qualen verbunden.

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Das zeigt jetzt auch die Debatte über die Brexit-Schlussrechnung: Die Scheidung von der EU wird wohl deutlich teurer als in London lange angenommen.

Brexit-Hardliner wie Außenminister Boris Johnson hatten ein ganz anderes Bild gezeichnet. Er versprach den Briten, dass ihnen die hohen Summen, die Großbritannien jetzt noch in den EU-Topf zahlen müsse, künftig zugute kämen - zum Beispiel in Form von Finanzspritzen für das marode Gesundheitssystem NHS (National Health Service).

Nun hat Großbritannien nach Angaben der Europa-SPD erstmals ein detailliertes Angebot für Zahlungen vorgelegt, das auf wichtige Forderungen der EU eingeht. Großbritannien verpflichtet sich demnach, gemeinsam mit der EU eingegangene Verpflichtungen wie Pensionslasten auch nach dem Brexit noch zu bezahlen. Darauf hatte Brüssel gepocht. Eine konkrete Summe soll in dem Angebot nicht erwähnt sein. Aber von abstrakten Zusagen können Experten hochrechnen. Britische Medien tun das und kommen auf 45 bis 55 Milliarden Euro.

Ist das der Durchbruch? Nein, noch nicht, sagt EU-Chefunterhändler Michel Barnier. „Wir arbeiten noch daran, wir haben es noch nicht geschafft.“ Der irische EU-Kommissar Phil Hogan bestätigt immerhin, dass es seit Dienstag Bewegung beim Thema Finanzen gab. Aber mit konkreten Aussagen wagt sich in Brüssel bislang fast niemand aus der Deckung.

Jens Geier, der Chef der SPD-Abgeordneten im Europaparlament, ist einer der wenigen. Er meint, dass das jüngste Angebot für die EU akzeptabel sein könnte. Wichtig sei die Bestätigung, dass etwa langfristige Pensionszahlungen der EU und andere Verpflichtungen anteilig mitbezahlt würden - und zwar lange nach dem Austrittsdatum Ende März 2019. Doch gerade das ist für Brexit-Befürworter eine harte Nuss.

„Großbritannien muss Jahrzehnte für EU-Rechnungen zahlen“, titelte die konservative Zeitung „Times“. Zur Erinnerung: Brexit-Hardliner hatten oft genug betont, dass Großbritannien nichts für die Scheidung von der Europäischen Union zahlen müsse. Als Brüssel hart blieb und Schätzungen von bis zu 100 Milliarden Euro kursieren ließ, machte Premierministerin Theresa May ein erstes Gebot. In ihrer Grundsatzrede in Florenz im September brachte sie zunächst 20 Milliarden Euro ins Spiel.

Die Regierungschefin tritt seit der von ihr vorangetriebenen und fehlgeschlagenen Neuwahl im vergangenen Juni nur noch vorsichtig auf. Sie fürchtet, zwischen Brexit-Hardlinern und Befürwortern eines weichen Brexits in der eigenen Partei zerrieben zu werden. Auf ihr Kabinett kann sie sich nicht verlassen. Ob Johnson oder Schatzkanzler Philip Hammond - immer wieder fahren ihr Kabinettsmitglieder mit eigenen Brexit-Vorschlägen in die Parade.

Dass May überhaupt noch Regierungschefin ist, führen viele Briten schlicht auf den Mangel an Alternativen zurück. Ein langjähriger Unterstützer Mays, Michael Fallon, ist zudem kürzlich wegen sexueller Belästigungen von seinem Amt als Verteidigungsminister zurückgetreten. Das Eis, auf dem sich May bewegt, ist dünn. Gestützt wird ihre Regierung von der erzkonservativen nordirischen DUP (Democratic Unionist Party), für die der EU-Austritt sehr heikle Fragen aufwirft.

Denn der Brexit schafft eine neue EU-Außengrenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland. Das könnte alte Wunden in den Bürgerkriegsregionen wieder aufreißen und auch dem Handel schaden. Zehntausende Menschen passieren täglich die Trennlinie, die derzeit nahezu unsichtbar im grünen Hügelland liegt. Hinzu kommt: In Nordirland gibt es seit fast einem Jahr keine Regionalregierung mehr. Wird der Parteienstreit dort nicht gelöst, könnte dem fragilen Landesteil eine Direktregierung aus London drohen.

Auch britische Wirtschaftsverbände werden zunehmend unruhig. Denn noch sind nicht bis ins Detail die Rechte der EU-Bürger nach dem Brexit geklärt. Fehlen künftig billige Erntehelfer und Zimmermädchen? Am Mittwoch meldete sich das Baugewerbe sorgenvoll: Viele Firmen beschäftigen hauptsächlich ausländische Bauarbeiter. Auch die deutsche Wirtschaft hat Bedenken. „Rosinenpicken darf es für London nicht geben“, teilte der Bundesverband der Deutschen Industrie mit.

Der britische Brexit-Minister David Davis steht derzeit übrigens ebenfalls mächtig unter Druck, weil er Teile eines Berichts nicht herausgeben will. Thema der Dokumente: die wirtschaftlichen Folgen des Brexits.