Analyse Demokratie im Labor
Berlin (dpa) - Es ist wie in einem politischen Labor, mit Angela Merkel als Physikerin der Macht: Vier Wochen nach der Wahl prägen von diesem Montag an zwei Prozesse die Berliner Politik. Am Dienstag konstituiert sich der neue Bundestag, erstmals seit 60 Jahren mit sechs Fraktionen und sieben Parteien.
Die AfD dürfte bei der Wahl des Parlamentspräsidiums einen Vorgeschmack auf rechtspopulistische Provokationen liefern. Am Abend startet die Kanzlerin mit FDP und Grünen in die Detailverhandlungen für ein Jamaika-Bündnis.
Die CDU-Chefin dürfte das Experiment faszinieren - und sie will, dass es ein Erfolg wird. Nach zweimal Schwarz-Rot und einmal Schwarz-Gelb könnte sie in ihrer vierten Amtszeit auch noch die erste Jamaika-Koalition im Bund führen. Soviel Flexibilität hat noch kein Kanzler vor ihr geschafft.
Wird das schwarz-gelb-grüne Werkstück gut, könnte es Gegenmodell zu den Spaltern in Bundestag und Gesellschaft sein. Wie unter dem Brennglas werden in dieser Woche in der Hauptstadt Probleme und Chancen zu besichtigen sein, die die nächsten Monate prägen dürften.
Stichwort AfD: Die hat angekündigt, sie wolle die Kanzlerin künftig jagen. Ein neuer Tonfall ist das, er lässt nichts Gutes ahnen für die Atmosphäre im Parlament. Mit Spannung wird erwartet, welche Worte der neue Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble am Dienstag nach seiner Wahl im Hohen Haus findet. Quer durch die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP, Grünen und Linken trauen viele dem dienstältesten Politik-Fuchs eine richtige Reaktion auf die AfDler um deren Fraktionschefs Alexander Gauland und Alice Weidel zu.
Schon die Wahl von Schäubles Vizepräsidenten am Nachmittag dürfte der AfD Schlagzeilen bringen. Politiker aller anderen Fraktionen wollen deren Kandidaten Albrecht Glaser nicht wählen, weil dieser die Religionsfreiheit für Muslime in Frage gestellt habe.
Am Dienstagabend kommen dann die Unterhändler in kleiner Runde der Partei- und Fraktionschefs, Generalsekretäre und einiger wichtiger Landes- und Europapolitiker zusammen, um weiter am Projekt Jamaika zu basteln.
Viel wird hier in den nächsten Wochen von Merkel abhängen. Schafft sie es, die unterschiedlichen Charaktere und die teils gegensätzlichen Positionen zusammenzuführen? Und dabei auch noch ihre Politik und die Zusammenhänge den Menschen zu erklären? Wenn nicht, könnte die Verdrossenheit der Wähler weiter wachsen - für die AfD wäre das wohl Wasser auf die Mühlen.
Doch nicht nur von Merkel hängt viel ab. Wie verhalten sich FDP-Chef Christian Lindner, oder die Grünen um ihre Spitzenverhandler Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir? Auch auf die kommt es an, wenn es darum geht, welches Bild von den Jamaika-Gesprächen bei den Menschen hängenbleibt. Das vom egoistischen Postengeschacher oder das vom ehrlichen Ringen um eine demokratische Regierung, die mit ungewöhnlichen Rezepten auf herausfordernde Zeiten reagiert.
Der Weg wird steinig sein - auch deswegen, weil alle Partner ihre eigenen Interessen im Auge haben müssen. Wie Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer, die nach dem großen Stimmen-Minus bei der Wahl unter Druck stehen. Merkel weiß: Die Rufe nach einem Generationswechsel in Partei und Regierung werden nicht verstummen. Sie muss darauf reagieren. Aber über Personalien will sie erst ganz zum Schluss reden. Solange muss sie ihre Kritiker im Zaum halten - und nicht alle werden am Ende besänftigt sein.
Doch immerhin senden selbst ausgewiesene Merkel-Kritiker wie Jens Spahn versöhnliche Signale Richtung Jamaika. Immer wieder betont er, die Konstellation könne alte gesellschaftliche Gräben zuschütten, bei Migration, Integration oder auch bei der Industrie- und Klimapolitik.
Seehofer ist sozusagen verdammt dazu, mit einem Verhandlungsergebnis nach München zurückzufahren, dass seine Kritiker zumindest vorerst zufrieden stellt. Sonst ist sein politisches Überleben beim Parteitag Mitte Dezember alles andere als gewiss. Kommende Jamaika-Runden macht das nicht einfacher: Gerade angesichts des CSU-Ziels, bei der Landtagswahl 2018 die absolute Mehrheit zu verteidigen, würde zuviel Kuscheln mit den Grünen ihm wohl schaden.
Da ist es für die FDP etwas einfacher: Parteichef Lindner ist als Wahlgewinner unangefochten, er hat bei den Verhandlungen die nötige Beinfreiheit. Lindner muss sich nur davor hüten, auf die falschen Ministerien zu setzen. Seine Angst dürfte sein, wie bei Schwarz-Gelb von 2009 und 2013 zwischen den Partnern zerrieben zu werden. Und die Grünen-Spitze muss darauf achten, dass die Basis am Ende in der Mitgliederbefragung über einen Koalitionsvertrag mitzieht. Zuviel Zugeständnisse an Schwarze und Gelbe dürfen deswegen auch nicht sein.
Krachen könnte es schon diese Woche. Dann liegen erste Reizthemen auf dem Tisch der Jamaikaner. Am Dienstag geht's um Steuern und Finanzen, die „Schwarze Null“ steht da gegen Steuergeschenke und milliardenschwere Investitionswünsche. Am Donnerstag folgt mit Flucht, Migration und Integration ein Thema, bei dem sich die Möchte-Gern-Partner in der Vergangenheit in teils gegensätzlichen Positionen eingemauert haben. Mal sehen, wie Merkel in ihrem Polit-Labor das Brodeln unter Kontrolle kriegt.