Analyse Der Doppelpass und Merkels riskante Grätsche
Essen/Berlin (dpa) - Es ist das berühmte Ventil für Delegierte. Es öffnet sich beim CDU-Parteitag am Mittwochvormittag in Sachen doppelter Staatsbürgerschaft.
Mit einer knappen Mehrheit von 319 zu 300 Stimmen beschließt der Parteitag gegen den erklärten Willen der Parteiführung von Kanzlerin Angela Merkel, den Kompromiss mit dem Koalitionspartner SPD zur doppelten Staatsbürgerschaft zu kippen.
Kinder ausländischer Eltern sollen wieder zwischen 18 und 23 Jahren eine ihrer beiden Pässe abgeben. Ade Koalitionsvertrag. Der richtige Eklat folgt aber nach Ende des Kongresses. Merkel erklärt vor Journalisten: Nix da.
Sie sagt das nicht von Angesicht zu Angesicht. Sie warnt die Delegierten auch nicht in ihrem Schlusswort. Im Gegenteil. Da erzählt sie, sie sehe die CDU handlungsfähig für das Wahljahr 2017. Sie marschiert vielmehr direkt nach dem traditionellen Ausklang des Parteitags mit der Nationalhymne vor die Kameras und stellt dort klar: „Es wird in dieser Legislaturperiode keine Änderung geben.“
Das hatte der so knapp angenommene Antrag der Jungen Union auch gar nicht gefordert. Er besteht ohnehin nur aus einem Satz - ganz ohne Zeitangabe: „Die CDU Deutschlands spricht sich (...) für die Abschaffung der Befreiung von der Optionspflicht für in Deutschland geborene Kinder von ausländischen Eltern aus, was der Gesetzeslage vor 2014 entspricht. Die CDU-Spitze hätte also dem Wunsch inzwischen wieder recht vieler Parteimitglieder nach einem etwas konservativeren Antlitz der CDU einigermaßen gefahrlos stattgeben können.
Unionsfraktionschef Volker Kauder hatte auch eine Brücke gebaut: Aufnahme ins Wahlprogramm. Was auch immer nach der Wahl und bei einer Koalitionsbildung damit geschieht. Er nimmt die doppelte Staatsbürgerschaft zwar gar nicht in den Mund, aber er wirbt um Verständnis, dass ein Parteitagsbeschluss nicht gleich Gesetz werden könne.
Innenminister Thomas de Maizière hatte noch versucht, den Beschluss abzuwenden, aber CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn rockte den Parteitag. Kompromisse einer Koalition gut und schön, aber jetzt habe die CDU ja gerade eine eigene Parteiveranstaltung. Die ist im übrigen das höchste Beschlussgremium. Auch für die Vorsitzende.
Die allerdings legt noch nach: Sie glaube auch nicht, dass die CDU noch einmal einen Doppelpass-Wahlkampf führen werde. Roland Koch lässt grüßen. Den Landtagswahlkampf 1999 gewann der hessische CDU-Hardliner nach einer bundesweit umstrittenen Unterschriftenkampagne gegen den Doppelpass.
Es ist eine vielleicht riskante Grätsche Merkels. Auf jeden Fall eine Provokation des auch von ihr über Jahre gestutzten konservativen Parteiflügel. Jedenfalls sind deren Vertreter erst einmal ziemlich sprachlos.
Vielleicht ist das Ergebnis von 89,5 Prozent bei ihrer Wiederwahl zur CDU-Chefin auch eine größere Enttäuschung, als ihr Umfeld zugeben mag. Immerhin steht die mächtigste Frau der Welt mit einem Sack voller Probleme allein schon angesichts international wegbrechender Bündnispartner mit ihrem schlechtesten Wahlresultat in ihrer elfjährigen Kanzlerschaft ein bisschen begossen da. Und das vor einem harten Wahljahr. Auch das hat Merkel so noch nicht erlebt. Driften Parteivorsitzende und Partei nun auseinander?
Während es in Essen rund geht, ist SPD-Chef Sigmar Gabriel am Mittag auf dem Weg zu einer Sitzung bei der Staatsbank KfW am Berliner Gendarmenmarkt. Mit grimmiger Miene tritt er vor die eilig zusammengerufenen Reporter. Dann legt er richtig los - und man wird bei frostigen Temperaturen im Vorraum der Bank den Eindruck nicht los, hier nutzt der künftige Kanzlerkandidat die unverhoffte Gelegenheit, die Kanzlerin ein bisschen vorzuführen.
Merkel habe sich ihre 89,5 Prozent quasi mit einem Rechtsruck erkauft: „Angesichts der Preise, die sie dafür offensichtlich bezahlen musste, finde ich, es wäre besser gewesen, sie hätte ein schlechteres Wahlergebnis bekommen und dafür bessere Beschlüsse.“ Aus dem Mund des 74-Prozent-Vorsitzenden ein besonders schöner Satz.
Die Kanzlerin habe sich für ihre Willkommenskultur bejubeln lassen, nun spiele ihre CDU letztlich dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in die Hände, wenn deutsche Kinder ausländischer Elternteile bei der Staatsbürgerschaft unter Generalverdacht gestellt würden. Das ist starker Tobak. Für die SPD ist es dennoch ein guter Tag. Aus Sicht der Genossen zeigt der turbulente CDU-Parteitag, wie tief die Gräben zwischen Kanzlerin und ihrer Gefolgschaft sind.
Die CDU rückt ein Stück weit nach rechts, die SPD ist auf der linken Spur unterwegs. Eine echte rot-rot-grüne Machtoption ist derzeit zwar nicht zu erkennen, aber wer weiß, was noch kommt?