Houston im Ausnahmezustand Der Kampf gegen das Allerschlimmste

Houston (dpa) - Lars Zetterstrom hatte keine Wahl. In der Nacht zum Montag gab der Chef des Ingenieur-Korps beim US-Heer in Texas den Befehl „Schleusen auf!“. Die ersten Staudämme entluden Wassermassen in die Umwelt, im Laufe des Tages folgten weitere.

Zetterstrom blieb keine andere Möglichkeit.

Die Schleusen geschlossen zu halten, hätte das Risiko eines Dammbruchs vergrößert. Schon jetzt sind die Folgen des Sturmes „Harvey“ die schlimmsten Überflutungen, die Texas je erlebte. Es könnte noch schlimmer werden, sagen Meteorologen voraus.

Die Schleusen zu öffnen, bedeutet für die von den Fluten geplagten Texaner nun weiteres Unheil. Die Wasserstände der Flüsse steigen weiter, die Überflutungen nehmen zumindest verübergehend zu.

Die Entscheidung zeigt, wie dramatisch die Lage ist. Die Experten in den Katastrophenschutzbehörden, den Wasserwerken und in den Bürgermeisterämtern können nur noch das Allerschlimmste verhindern.

Binnen Tagen hat sich die Millionenmetropole Houston von einer unter Sommerhitze leidenden Großstadt in eine Seenlandschaft verwandelt. Dort wo sich sonst in der Rushhour am Morgen und am späten Nachmittag lange Autoschlangen bilden, verkehren nun Wasserfahrzeuge: Menschen sitzen in kleinen Booten mit Außenbordmotor, manche müssen Paddeln. Andere waten in Regenkleidung durch brusthohes Wasser. Sogar einige Jetskis, mit denen Wassersportler sonst zum Spaß vor der Küste entlangjagen, waren in den Hochhausschluchten unterwegs.

Doch Spaß haben nur wenige. „Oh mein Gott, das ist unglaublich“, entfährt es einer gehbehinderten alten Frau, die gerade von Rettungskräften in ein Boot gehoben wird. „Ich wohne hier seit 60 Jahren, das habe ich noch nicht erlebt.“ Ein Bild von einem Altenheim in Dickinson ging um die Welt: Ältere Menschen sitzen in ihren Rollstühlen, die Speichen zu zwei Dritteln im Wasser.

Andere tragen Hunde und Katzen auf den Schultern, Eltern halten bei strömendem Regen ihre verängstigenden Kinder auf dem Arm. Mit Golfkarren und Motorrädern versuchen Einzelne, sich den Weg durch den Schlamm zu bahnen. „Mir ist kaum etwas übrig geblieben“, sagt der 19 Jahre alte Nathan Kaufmann aus dem Touristenort Rockport an der Südküste dem „Houston Chronicle“. Wo normalerweise türkisblaues Wasser und Traumstrände Touristen anziehen, hat sich Verwüstung breit gemacht. Kaufmans Wohnung im 1. Obergeschoss ist völlig zerstört.

Der Bürgermeister der Stadt Fulton, Jimmy Kendrick, kann die Tränen nur schwer zurückhalten. „Unsere Stadt ist kaputt“, sagt er. „Das tut weh.“ Durchhalteparolen machen die Runde. „Wir schaffen das. Wir kriegen das wieder hin.“ Die Katastrophenschutzbehörde FEMA rief bereits alle Texaner auf, ihren Teil beizutragen - zunächst zur Rettung Verletzter und Bedürftiger. Später zum Wiederaufbau. Nach ersten Einschätzungen von Experten wird er Jahre dauern.

Gesundheitsgefahren kommen in den Fokus. Der Sender ABC spricht von einem „Gesundheitsalarm“, unter dem die Hochwassergegend im Süden von Texas stehe. Das Trinkwasser sei in Gefahr. Immer mehr Tiere werden in die Straßen gespült. Der Sender zeigt Bilder von einem Alligator in einem Vorgarten. Dazu kommen Schlangen, Insekten, Kriechtiere, einige können für Menschen gefährlich sein. Im Osten Houstons klagen Anwohner über schwer erträglichen Gestank nach dem Herunterfahren der Öl-Raffinerien. „Wir haben nicht nur das Wasser, wir müssen auch noch giftige Luft atmen“, regt sich einer von ihnen bei Twitter auf.

Dem Gouverneur von Texas, Greg Abbott fehlen fast die Worte, wenn er den Zustand seines Staats, wo bis zu 30 000 Menschen vorübergehend obdachlos geworden sein könnten, beschreiben soll. „Dies ist eine historische Flut“, sagt er. „Selbst die schlimmsten Befürchtungen sind bei weitem übertroffen worden.“ Das stimmt nur zum Teil. Schon Tage bevor der Wirbelsturm Harvey - noch als Hurrikan - auf die Küste von Texas traf, hatten Experten vor den möglicherweise katastrophalen Auswirkungen gewarnt. 2008 hatte der Hurrikan „Ike“ Texas getroffen und war knapp an den Ölanlagen bei Houston vorbeigeschrammt. Danach machten Versprechungen die Runde, der Hochwasserschutz werde besser.

Tatsächlich verlor die Gegend von Houston in den Jahren 1996 bis 2010 220 Quadratkilometer an Grünland zugunsten von Wohn- und Bürokomplexen. Schon vor mehr als einem Jahr hatte die „Texas Tribune“ gewarnt: „Houston, wo die petrochemische Chemie Millionen Tonnen giftiger und gefährlicher Stoffe lagert, ist nicht vorbereitet auf den nächsten Hurrikan.“ Auch dass die Katastrophenschutzbehörde FEMA nur Wochen vor dem Start der Hurrikan-Saison ihre Führung auswechselte, sehen Hochwasserexperten als großen Fehler an.