Analyse Die Trümmerfrau der SPD - Andrea Nahles unter Druck
Berlin (dpa) - Andrea Nahles verfolgt dieser Satz. „Ab morgen gibt's in die Fresse.“ Das sagte sie nach der Bundestagswahl in Richtung Union.
Es war ironisch gemeint, die neue SPD-Fraktionschefin kündigte eine harte Opposition in Richtung der vermeintlich zustande kommenden Jamaika-Koalition an. Es kam alles anders. Auch für sie persönlich.
Derzeit bekommt vor allem die SPD einiges ab. Nach dem Fiasko mit Martin Schulz soll Nahles nun für den Generationswechsel stehen. Sie soll die erste Frau an der Spitze der altehrwürdigen SPD werden. Am Dienstagnachmittag beraten Präsidium und Vorstand der SPD, ob sie wegen der Turbulenzen sofort den Vorsitz von ihrem gescheiterten Vorgänger übernimmt. Zunächst kommissarisch.
Ein Parteitag müsste Nahles innerhalb von drei Monaten noch formal wählen. Einige Genossen, auch aus der Spitzenriege, wollen die Vorentscheidung aber schon jetzt. Schließlich geht es in den nächsten Wochen beim Mitgliederentscheid um alles für die SPD. Ohne ein Ja der Basis kann die ganze Führungsmannschaft einpacken. Und Nahles wird zugetraut, dass sie die Basis zu einem Ja bewegen kann.
Sie war es, die am 21. Januar mit einer wuchtigen Rede beim Parteitag in Bonn die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit CDU/CSU rettete. Sie verwarf ihr Manuskript und setzte auf Emotion. Sie sei in der Politik, weil sie Großes im Kleinen sehe, eben den kleinen Veränderungen, von denen aber Millionen profitierten. „Die zeigen uns 'nen Vogel“, brüllte sie mit Blick auf die Wähler, wenn man trotz der Sondierungsergebnisse mit viel SPD-Rot nicht verhandele.
Die 47 Jahre alte Germanistin und engagierte Katholikin ist jetzt so was wie die Trümmerfrau der SPD. Sie muss die Partei modernisieren, verjüngen, die dramatische strukturelle Schwäche in Ost- und Süddeutschland angehen, eine Zukunftsidee entwickeln, die SPD wieder näher an die Leute heranrücken. Um von der AfD Wähler zurückzuholen. Und als erstes muss sie eben ein Ja beim Mitgliederentscheid zustande bringen. Es ist ein fast unmenschliches Pensum. Seit Monaten.
Mit kantigen Kurs, frohem Gemüt und gelegentlichem Hang zum Infantilen („Bätschi“ an die Union, Pipi-Langstrumpf-Lied im Bundestag) sorgt Nahles oft für Aufsehen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) schätzt sie als professionelle Politikerin. Als Arbeitsministerin setzte Nahles den historischen Mindestlohn von 8,50 Euro durch. So etwas wie der Mindestlohn 2.0 fehlt diesmal bei der Mitgliederbefragung. Aber Nahles kann unter anderem damit werben, dass die SPD der Union gewichtige Ressorts abgetrotzt hat.
In ihrer Abizeitung nannte sie bei der Frage nach dem Berufswunsch zwei Alternativen: „Hausfrau oder Bundeskanzlerin“. Da es in ihrem Heimatdorf Weiler in der Eifel keinen SPD-Ortsverein gab, gründete sie selbst einen. Bis heute ist sie sehr heimatverbunden. Ihre siebenjährige Tochter Ella Maria geht daheim zur Schule. Nahles fährt am Wochenende nach Hause, wenn es geht. Nachdem sie bis Mittwoch 24 Stunden den Koalitionsvertrag mit der Union ausgehandelt und danach abends noch mit Schulz eine Pressekonferenz zur Übernahme des SPD-Vorsitzes gegeben hatte, war sie Donnerstag zum Weiberfastnachtsumzug wieder daheim. Verkleidet als Clown.
Nun muss die Tochter eines Maurers, die über ein beachtliches Netzwerk verfügt, die Rundumerneuerung der SPD in Angriff nehmen. Die Umstände haben ihr geschadet, auch wenn sie sich dagegen wehrt, dass der Wechsel auf dem SPD-Vorsitz wieder mal eine Sturzgeburt sei. Den Führungswechsel hätten Schulz und sie gemeinsam und freundschaftlich entschieden, sagte sie. Man sei fair miteinander umgegangen. „Ich habe auch schon anderes in dieser Partei erlebt“, betonte sie.
Dennoch werden ihr zwei Dinge vorgehalten: Erstens, dass die Nachfolge „wie bei den Männern“ wieder im kleinen Kreis entschieden wurde. Schon gibt es Forderungen von allen Seiten, dies künftig zwischen mehreren Bewerbern per Urwahl durch alle SPD-Mitglieder zu entscheiden. Zweitens fragen sich viele, warum sie und SPD-Vize Olaf Scholz, der mögliche Vizekanzler und Finanzminister, nicht Schulz Einhalt geboten haben bei seinem Plan, zwar den Vorsitz abzugeben, aber sich als Außenminister in die Regierung zu retten.
Schon zum zweiten Mal ist sie nun Hauptprotagonistin bei Verwerfungen in der SPD während der Bildung einer GroKo. 2005 gehörte die frühere Juso-Chefin noch klar zum linken SPD-Flügel. Sie trat in einer Kampfabstimmung um den Generalsekretärsposten gegen den Kandidaten des damaligen SPD-Chefs Franz Müntefering an, Kajo Wasserhövel. Nahles gewann - Müntefering trat zurück. Matthias Platzeck wurde sein Nachfolger, und Nahles wurde damals (noch) nicht Generalsekretärin.
Nahles und die SPD - das ist auch eine Geschichte vieler Kämpfe. Schon beim Sturz von Rudolf Scharping durch Oskar Lafontaine 1995 spielte sie eine wichtige Rolle. Kanzler Gerhard Schröder machte sie wegen dessen Reform-Agenda 2010 das Leben schwer. 2007 wurde sie Parteivize, 2009 dann Generalsekretärin unter Sigmar Gabriel. Eine schwierige Zeit. Alleingänge und Macho-Gehabe sorgten für Reibereien. Dies erklärt auch, warum Gabriel trotz des Verzichts von Schulz wenig Chancen hat, unter Nahles als Außenminister weiterzumachen.
Das Duo Nahles/Scholz soll es also richten. Ein Paar der Gegensätze, das viel abdecken und viele Geschmäcker ansprechen soll: Er, der Verkopfte, Sachliche, Nüchterne soll als Vernunftpart in die Regierung gehen. Sie, die Gefühlige, Leidenschaftliche, die sich immer wieder mit markigen Worten und Haudrauf hervortut, soll der Partei jenseits des Kabinetts Profil geben.
Nahles weiß, wenn die Mission gut geht, ist sie die geborene Kanzlerkandidatin für 2021. Dann könnte es auch mit dem Berufswunsch aus Abiturzeiten vielleicht noch etwas werden.