Ebola: „Die Welt hat zu spät reagiert“
Berlin (dpa) - Es sind nicht die Erinnerungen an die vielen Ebola-Toten, die sich ins Gedächtnis brennen. „Es sind die Schicksale der Überlebenden“, sagt der Berliner Arzt Thomas Kratz.
Fast vier Wochen war der 38-Jährige für die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ in Sierra Leone. Am Anfang fühlt er sich so verloren wie Don Quijote. Zu fünft kämpft das Team Mitte Juni gegen ein gefährliches Virus, das die staatlichen Gesundheitsbehörden heillos überfordert. Anfang Juli schaltet sich die Zentrale der Weltgesundheitsorganisation ein, erst im August gibt es die erste große Finanzspritze der Weltbank. „Die Welt hat zu spät reagiert, vor allem in Sierra Leone“, sagt Kratz heute. „Wir haben jetzt eine Chance, die Epidemie einzudämmen. Aber das wird noch Monate dauern.“
Drei Mediziner dringend gesucht! So beginnt die Email, mit der Ärzte ohne Grenzen Anfang Juni weltweit nach Kollegen mit Ebola-Erfahrung sucht. Thomas Kratz gehört dazu. 2012 half er, einen lokalen Ausbruch in der Demokratischen Republik Kongo erfolgreich zu bekämpfen. Sierra Leone gilt als größere Herausforderung, eine unwägbare Lage, gefährlicher als im Nachbarland Guinea. Thomas Kratz ist Allgemeinmediziner mit einer Praxis in Berlin. Er hat einen Tag nachgedacht und sich gemeldet. Er sei Arzt geworden, um Menschen zu helfen, sagt er.
Als Kratz in Sierra Leone ankommt, erwartet ihn in der Stadt Kailahun das pure Chaos. Es gibt bereits 20 bestätigte Ebola-Fälle im Land - und sonst fast nichts. Das einzige Labor für Blutproben, in denen sich der Erreger nachweisen lässt, liegt in einer anderen Stadt. Mitunter dauert es 72 Stunden, bis das Ergebnis kommt. Technisch sind nur drei bis vier Stunden nötig. Wertvolle Zeit geht verloren, in der Kranke mit Ebola-Verdacht zu acht in einem Zelt liegen. „Ebola-Symptome sind von Malaria, Grippe oder Typhus anfangs kaum zu unterscheiden“, sagt Kratz. „Unsere größte Befürchtung war, dass sich hier jemand ansteckt, der gar kein Ebola hat.“
Erst im Juli legt sich zumindest diese Sorge. Die Kanadier kommen mit einem großen Labor nach Kailahun. Das Ausmaß der Epidemie wird damit sichtbarer. Bis zum 6. August melden beide Labors für Sierra Leone fast 700 Ebola-Kranke - mit Abstand die meisten in den vier betroffenen Ländern Westafrikas. Es ist unklar, ob damit alle Patienten erfasst sind. Viele wagten sich nicht in die internationalen Behandlungszentren, sagt Kratz.
„Es ist die Angst vor Stigmatisierung. Und es schwirren Gerüchte umher“, berichtet der Mediziner. „Es gibt sogar die Mär, dass Europäer Menschenversuche mit Afrikanern machen und sie mit Ebola infizieren.“ Es sind irrationale Ängste in einem Land mit niedrigem Bildungsniveau, gemischt mit Misstrauen aus Kolonialzeiten und auch mit dem Stolz, sich von Weißen nicht alles vorschreiben zu lassen. Aber es gibt auch die Hoffnung, dass die Ärzte aus dem Ausland Leben retten. Sierra Leone ist seit Ebola ein gespaltenes Land. In einigen Dörfern werden Helfer jubelnd empfangen, in anderen mit Steinen beworfen.
Das macht die dringend nötige Aufklärung über Ansteckungswege immer noch schwer. Doch damit steht und fällt die Eindämmung der Epidemie. „Die Grenzen dichtzumachen oder Militär einzusetzen, ist nicht nachhaltig“, kritisiert Kratz. Für ihn zählen vor allem die Hygiene-Schulung lokaler Helfer und der Schneeball-Effekt, der daraus entsteht.
Fingerspitzengefühl und Sensibilität für die westafrikanische Kultur gehören dazu. „Das gefährlichste sind Beerdigungen“, sagt Kratz. Radiosender warnen in Sierra Leone inzwischen vor dem traditionellen Waschen und Berühren der Ebola-Toten. Doch es ist schwer, auch vor dem Händeschütteln zu warnen, der üblichen Begrüßung im Land. Kulturwandel braucht Zeit. Ebola ist oft schneller. „Aber ohne das Vertrauen der Bevölkerung kämpfen wir auf völlig verlorenem Posten“, sagt Kratz. Aktuelle Spekulationen über den Einsatz von US-Medikamenten wie „ZMapp“, die noch nicht an Menschen getestet seien, könnten die ohnehin schmale Vertrauensbasis dabei schwer beschädigen.
Der Berliner Arzt sieht inzwischen aber noch eine ganz andere Gefahr: Ebola stehe so sehr im Mittelpunkt, dass die Behandlung anderer Krankheiten in Westafrika darüber vernachlässigt werden könnte. „Ich möchte nicht wissen, wie viele Kinder in Sierra Leone gerade an Malaria sterben“, sagt er.
Vor seinem Einsatz hatte auch Kratz Ebola für ein gefährliches, aber „dummes“ Virus gehalten - weil es Menschen so schnell töten kann und sich damit einer weiten Verbreitung selbst im Weg steht. Seit seiner Rückkehr im Juli sieht er das anders. Denn im Gegensatz zum Kongo sind die Menschen in Sierra Leone sehr mobil. Es gibt asphaltierte Straßen von Stadt zu Stadt. Das Virus kann auf überfüllten Lastentaxis immer mitreisen.
„Sierra Leone ist leider auch nicht Uganda“, seufzt Kratz. Das ostafrikanische Land habe Erfahrung mit Ebola, Notfallpläne und ein gut vorbereitetes Gesundheitssystem. Sierra Leone hat fast nichts. Auf dem Entwicklungs-Index der Vereinten Nationen rangiert es auf der Staatenliste auf Platz 183 von 187, gerechnet nach Lebenserwartung, Bildung, Lebensstandard und Einkommen. Ein Dorado, selbst für „dumme“ Viren.
Sein Einsatz habe ihn verändert, sagt Kratz. Eine Woche lang stand er zurück in Berlin völlig neben sich. In der Erinnerung sieht er noch immer ein 14-jähriges Mädchen aus Sierra Leone vor sich. Der Vater ist schon an Ebola gestorben, die Mutter liegt auf der Isolierstation. Das Mädchen kommt als Besucherin ins Camp, Kratz muss ihr vom Tod der Mutter berichten. „Das war eines meiner schlimmsten Gespräche als Arzt“, sagt er. „Sie hat eine halbe Stunde lang vor Schmerz und Kummer geschrien.“