Ein Viertel der ausgereisten Islamisten türkischstämmig

Berlin (dpa) - Ein großer Teil der bis Ende 2015 aus Deutschland in Richtung der Kriegsgebiete der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) ausgereisten Islamisten hat einen türkischen Hintergrund.

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Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor, die der Deutschen Presse-Agentur in Berlin vorliegt. „Nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden hatte etwa ein Viertel der 760 deutschen Islamisten bzw. Islamisten aus Deutschland, die bis Ende 2015 in Richtung Syrien/Irak ausreisten, die türkische Staatsbürgerschaft oder war "türkischstämmig"“, heißt es in der vom Bundesinnenministerium verfassten Antwort.

In absoluten Zahlen wären das etwa 190 Islamisten gewesen. Auch die Zeitung „Die Welt“ berichtet über die Angaben.

Im Jahr 2016 sind die Zahlen der aus Deutschland in die IS-Gebiete ausgereisten Islamisten weiterhin stark angestiegen. Nach Angaben des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) von Mitte Mai waren bis dahin mindestens 820 Islamisten aus Deutschland in Richtung Syrien und Irak gereist. Ende Juni hatte das Bundeskriminalamt (BKA) mitgeteilt, dass ein Drittel dieser etwa 820 Menschen inzwischen wieder in der Bundesrepublik ist. 140 der ausgereisten Islamisten seien in Syrien oder im Irak gestorben.

Am Dienstag hatte der vertrauliche und nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Teil der Antwort der Bundesregierung auf die Linken-Anfrage für erheblichen Wirbel gesorgt. Aus diesem als „Verschlusssache“ eingestuften Teil, der auch der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, geht hervor, dass die Bundesregierung die Türkei unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan als „zentrale Aktionsplattform“ für islamistische und terroristische Organisationen im Nahen Osten sieht. Demnach arbeitet Ankara seit Jahren mit Islamisten zusammen. Eine Reaktion der türkischen Regierung steht noch aus.

Der Bericht könnte das diplomatische Klima zwischen Berlin und Ankara weiter verschlechtern. Die auf einer Bundesnachrichtendienst-Analyse basierende Einschätzung ist auch deswegen heikel, weil die Opposition Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) seit Beginn der Flüchtlingskrise vorwirft, sich mit kritischen Äußerungen über Erdogan zu sehr zurückzuhalten. Die Regierung habe sich mit dem von Merkel initiierten EU-Flüchtlingspakt mit der Türkei von Erdogan abhängig gemacht.

DIE KERNAUSSAGEN DES VERTRAULICHEN TEILS DES BERICHTS, der sich auf die Frage bezieht, inwieweit es zutreffe, dass mit der Regierungsübernahme der islamistischen AKP von Erdogan die islamistischen Muslimbrüder an Einfluss gewonnen hätten:

- „Als Resultat der vor allem seit dem Jahr 2011 schrittweise islamisierten Innen- und Außenpolitik Ankaras hat sich die Türkei zur zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen der Region des Nahen und Mittleren Ostens entwickelt.“ (...)

- „Der türkische Staatspräsident und die AKP haben sich mit MURSI solidarisiert und gewähren den ägyptischen MB Unterstützung. So leben zahlreiche exilierte Anführer der Organisation inzwischen in der Türkei.“ (Ägyptens Ex-Präsident Mohammed Mursi war 2013 nach Massenprotesten vom Militär gestürzt worden. Die Türkei hatte in einem engen Bündnis mit der Muslimbruderschaft gestanden, der Mursi angehört. d.Red.)

- „Die ägyptische MB hat in den vergangenen Jahren ihre mediale Infrastruktur in der Türkei u.a. über eine Reihe von Satellitenkanälen ausgebaut und betreibt über sie Propaganda gegen die amtierende ägyptische Regierung.“

- „Die zahlreichen Solidaritätsbekundungen und Unterstützungshandlungen für die ägyptische MB (Muslimbruderschaft), die HAMAS und Gruppen der bewaffneten islamistischen Opposition in Syrien durch die Regierungspartei AKP und Staatspräsident ERDOGAN unterstreichen deren ideologische Affinität zu den Muslimbrüdern.“ (Hervorhebungen in Versalien durch die Bundesregierung, d.Red.)

Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz sagte der „Mitteldeutschen Zeitung“ (Mittwoch) zu dem Bericht: „Sollte dies tatsächlich die Einschätzung der Bundesregierung sein, rücken der Türkei-Deal und die Milliarden-Leistungen an Erdogan in ein noch zweifelhafteres Licht.“ Sein Parteikollege Omid Nouripour sagte der „Rheinischen Post“ (Mittwoch): „Eine solch gravierende Kritik muss endlich öffentlich und nicht nur in klassifizierten Unterlagen geäußert werden.“ Der SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich forderte in der „Frankfurter Rundschau“ (Mittwoch), den Bundestag rasch über die Erkenntnisse zu informieren. Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter kritisierte im „Handelsblatt“ die Informationspolitik des Innenministeriums: „Bei außenpolitischen Einschätzungen empfiehlt es sich grundsätzlich immer, das Auswärtige Amt einzubeziehen.“