Ausgang bleibt unberechenbar Eine Wahl wie noch keine
Washington (dpa) - Erschöpft, gespalten und tief aufgewühlt gehen die USA auf die Zielgerade ihrer Präsidentenwahl. Wenn in der Nacht zum 9. November (Ortszeit) die Nachfolge Barack Obamas geklärt sein wird, ist der heftigste und ungewöhnlichste Wahlkampf der US-Geschichte zu Ende.
Große Teile der Welt beobachten voller Sorge, ob tatsächlich Donald Trump, ein hochaggressiver Politnovize, ins Weiße Haus einziehen wird, oder ob seine Kontrahentin Hillary Clinton als erste Frau das 45. Staatsoberhaupt der USA wird.
Diese Wahl ist noch nicht entschieden, auch wenn dieser Tage alles für die Ex-Außenministerin und frühere First Lady spricht. Sie führt landesweit, in allen wichtigen Swing States, nach Wahlmännern geradezu turmhoch. Trotzdem bleibt alles irgendwie unberechenbar.
Denn Trump ist so oft zurückgekommen, Clinton nicht nur wegen des Dauerfeuers ihres E-Mail-Skandals rasend unbeliebt, alles bleibt möglich. Im Zeitalter von Social Media und steter Bilderfluten setzten die Republikaner auf die kurze Aufmerksamkeitsspanne der Wähler, schreibt die „Washington Post“. Die Hoffnung: Mögen sie den jüngsten Skandal doch einfach rasch wieder vergessen.
Dass Trump gewinnt, ist schwer zu glauben, sieht man sich Vorleben und Wahlkampf des Republikaners an. Aus einem Strudel an Fehltritten und Skandalen hätte in normalen Jahren jeder einzelne gereicht, um einen Kandidaten zu fällen. Aber Trump ist kein normaler Kandidat. Er verkörpert für seine Fans die Hoffnung, dass etwas ganz anders werden möge, dass er in Washington „aufräumt“. Dass der Glanz der alten Supermacht wieder bis in die leeren Fabrikhöfe Ohios oder Montanas strahlen möge, und in andere Kerne eines in sich zerrissenen Landes.
Erst ein knapp elf Jahre altes Video, in dem Trump seinen Ruhm als Freifahrtschein sexuellen Missbrauchs preist, schaffte, was seit dem Juni 2015 nicht möglich schien. Trumps lauter Riesendampfer schlägt leck. Die Partei: „Im Bürgerkrieg“ (CNN). Dabei waren seine besonderen Eigenschaften schon zuvor kein Geheimnis.
Und wenn Trump es nicht wird: Alles gut?
Umfrage der „New York Times“: 40 Prozent der Amerikaner sagen, sie hätten von den Veränderungen unter Obama profitiert, blickten optimistischer in die Zukunft. Nur - 40 Prozent sagen das genaue Gegenteil. Viele fühlen sich im Stich gelassen, abgehängt, darunter sehr viele aus der weißen Mittelschicht.
Eine Präsidentin Clinton stünde dafür, die Millionen, die in den Vorwahlen für Trump stimmten und am 8. November für ihn votieren, auf neue Gemeinsamkeit einzuschwören. Das täte sie als Hassfigur der Rechten und vieler Republikaner. Eine Herkules-Aufgabe. Diese Wahl ist ja auch ein Kampf der Geschlechter. Wenn am 8. November nur Frauen abstimmen würden, hat der Blog „FiveThirtyEight“ ausgerechnet, käme Trump auf 80 Wahlmänner. Von 538.
Möglicherweise waidwund von seinem Videoskandal, sprengt Trump die Republikaner in diesen Tagen Stück für Stück auseinander. Die Partei Abraham Lincolns kann es kaum mehr so geben wie zuvor. In heller Panik erkennt sie, dass sie in einem Wahljahr, in dem ihr nach zwei Amtszeiten des mit Ingrimm blockierten Obama alles möglich schien, vielleicht alles verliert. Weißes Haus, Senat, Repräsentantenhaus.
Für die Kongressmehrheit müssten die Demokraten vier oder fünf Senatorensitze erobern und 30 im „House“. Clinton hätte als Präsidentin für zwei Jahre eine unglaubliche und bis zuletzt nicht für möglich gehaltene Gestaltungsmacht. Gesetzgebung, Oberstes Gericht, Außenpolitik: Alles wäre möglich. Voraussetzung: Trump müsste für die Kandidaten der zeitgleich zum Weißen Haus stattfindenden Kongresswahlen das derzeit erwartete Senkblei sein.
Zwei Jahre könnte Clinton schalten und walten, bevor 2018 in den „Midterm elections“ der Kongress teilweise neu gewählt wird. In diesen Wahlen wird der Amtsinhaber traditionell abgestraft, dann stünden sich die politischen Blöcke womöglich wieder so starr gegenüber wie jetzt. Und 2020 sind die nächsten Präsidentenwahlen.
2020 spielt schon jetzt eine große Rolle. Texas' Senator, der ölig-schneidige Ted Cruz, Vize-Präsidentenanwärter Mike Pence, der Präsident des Abgeordnetenhauses Paul Ryan, ihnen allen werden Ambitionen nachgesagt. Sollten die Republikaner am 8. November den Kongress doch halten können - warum sollten sie dort bis 2020 einer Präsidentin Clinton auch nur einen Finger reichen? Warum ihr Erfolge gönnen für die Sanierung einer maroden US-Infrastruktur, den Ausbau eines Gesundheitssystems, gar eine Änderung des Waffenrechts?
Den USA stünden so vier weitere Jahre der Blockade bevor. Gefesselt von einem überkommenen Wahlrecht und einer ältlichen Verfassung, würde eine Präsidentin Clinton womöglich den Weg ihres Vorgängers fortsetzen und immer mehr per Dekret regieren. Das Land triebe das noch weiter auseinander.
Und wenn Trump es doch wird?
Gestützt auf Dutzende Gesprächspartner legt der „New Yorker“ in einer brillanten Analyse dar, warum niemand glauben solle, ein Präsident Trump würde anders handeln als der Kandidat Trump versprochen hat. Radikale Verschärfung der Einwanderung, womöglich Deportationen, eine Mauer zu Mexiko, Neuverhandlung der Handelsverträge, atomare Aufrüstung in Asien, in Frage stellen der Nato, kein Schutz für kleinere Länder - und der Atomkoffer immer in Griffweite. Das alles bar jeder politischen Erfahrung.
Dass in einem Präsidentschaftswahlkampf Latino-Schönheitsköniginnen eine Rolle spielen würden, die Größe von Geschlechtsteilen und Schmähungen der Konkurrentin als Verbrecherin, das sagt auch über den Zustand der US-Medien viel aus, vor allem des Fernsehens. Nach dem 8. November kann es im nach wie vor mächtigsten Land der Welt wieder um Politik gehen. Syrien, Russland, Handel, Klima, Atomwaffen: Wenn sich der Theatervorhang dieses unglaublichen Wahlkampfs schließt, steht der wirklich schwere Stoff auf der Weltbühne längst bereit.