Erdogan: Der „Boss vom Bosporus“ versteht keinen Spaß
Istanbul/Berlin (dpa) - Journalisten in Handschellen, Tränengas gegen Demonstranten und ein sich in Rage redender „Boss vom Bosporus“ alias Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Dazu die Klänge von Nenas Superhit „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“ und Textzeilen wie: „Ein Journalist, der irgendwas verfasst, was Erdogan nicht passt, ist morgen schon im Knast.“
Was in Deutschland als ganz normale Satire gilt, kann in der Türkei auch schon mal als Majestätsbeleidigung aufgefasst werden. Die türkische Regierung fand den zweiminütigen Videoclip über Erdogan, der am 17. März in der NDR-Sendung „extra 3“ ausgestrahlt wurde, jedenfalls gar nicht witzig und bestellte den deutschen Botschafter Martin Erdmann ein. Nach Angaben aus türkischen Diplomatenkreisen verlangten die Türken gar einen Stopp der weiteren Verbreitung des Films.
In Deutschland mag eine solche Forderung „lächerlich“ wirken, wie es der Deutschen Journalisten-Verband am Dienstag ausdrückte. In der Türkei dagegen häufen sich Interventionen gegen Medien und Klagen gegen Journalisten.
In dem Satire-Film des NDR ist der bekannte türkische Journalist Ahmet Sik zu sehen, der 2011 wegen einer angeblichen Mitgliedschaft in dem Geheimbund „Ergenekon“ festgenommen wurde und ein Jahr in Untersuchungshaft saß. Can Dündar - Chefredakteur der regierungskritischen „Cumhuriyet“ - ist heute in einer ähnlichen Situation. Ihm und dem Hauptstadt-Büroleiter Erdem Gül drohen lebenslange Haft, unter anderem wegen „Spionage“ und Unterstützung einer Terrororganisation.
Der Prozess begann vergangenen Freitag. Zum Auftakt erschienen mehrere Diplomaten, unter ihnen der deutsche Botschafter Erdmann. Erdogan reagierte wütend darauf „Wer sind Sie? Was haben Sie dort zu suchen? Dies ist nicht Ihr Land, dies ist die Türkei“, sagte er am Samstag in einer Rede.
Vor dem Prozessauftakt hatte Dündar der Deutschen Presse-Agentur gesagt: „Die Türkei war noch nie ein Paradies für Journalisten. Aber ehrlich gesagt haben wir nicht einmal in militärischen Putschzeiten einen derart intensiven Druck erlebt“.
Oppositionelle Zeitungen wie etwa die „Zaman“ wurden unter staatliche Aufsicht gestellt und dann auf Regierungskurs gebracht, die Ausstrahlung des unabhängigen Senders IMC TV stark eingeschränkt. Auch ausländische Journalisten bekommen den Druck inzwischen zu spüren: Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ zog seinen Türkei-Korrespondenten Hasnain Kazim Mitte März ab, weil ihm die Akkreditierung verweigert wurde.
Und was sagt die Bundesregierung dazu? Botschafter Erdmann erteilte der türkischen Regierung eine Abfuhr. Politische Satire in Deutschland sei von der Presse- und Meinungsfreiheit gedeckt, erklärte er seinen Gesprächspartnern im türkischen Außenministerium. Deshalb gebe es „weder eine Notwendigkeit noch die Möglichkeit“ einzugreifen.
Die Bundesregierung befindet sich mit ihrer Türkei-Politik seit Wochen auf einer riskanten Gratwanderung. Das Konzept von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Lösung der Flüchtlingskrise ist ohne die Türkei nicht zu realisieren. Gleichzeitig muss Berlin mit ansehen, wie die türkische Regierung Presse- und Meinungsfreiheit rigoros einschränkt.
Kanzlerin Merkel (CDU) und Außenministerin Frank-Walter Steinmeier (SPD) haben die Problematik in den vergangenen Wochen immer wieder angesprochen. „Wir müssen uns über die Interpretation und das Verständnis von Freiheitsrechten mit der Türkei unterhalten“, sagte Steinmeier noch vor der Einigung mit der Türkei über das Flüchtlingsabkommen. Die Rechtsverständnis beider Seiten scheint aber weiter auseinanderzudriften.
Die Redaktion von „extra 3“ ließ sich nicht einschüchtern. Auf ihrer Twitter-Seite wurde nach der Einbestellung des Botschafters ein Foto von Erdogan mit der Aufschrift: „Mitarbeiter des Monats“ versehen.
So viel Freiheit können sich Journalisten in der Türkei kaum noch ungestraft leisten. Vergangenes Jahr wurden zwei Zeichner der Satire-Zeitschrift „Penguen“ wegen Beleidigung Erdogans zu Geldstrafen verurteilt. Sie sind bei weitem nicht die einzigen, gegen die solche Anschuldigungen erhoben werden.
Nach Angaben des Justizministeriums wurden seit Erdogans Wahl zum Staatspräsidenten im August 2014 mehr als 1800 Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung eröffnet.