Experte: Bündnis mit Gülen zerbrach an Erdogans Machtstreben

Berlin (dpa) - In der Türkei tobt ein Machtkampf zwischen einstigen Partnern. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan beschuldigt die Gülen-Bewegung des in die USA emigrierten islamischen Gelehrten Fethullah Gülen des Komplotts.

Wie es zu dem Bruch kam und welchen Einfluss Gülen in der Türkei heute hat, erklärt Türkeiexperte Günter Seufert im Interview mit der Nachrichtenagentur dpa:

Frage: Welche politischen Ansprüche hat die Gülen-Bewegung?

Antwort: In den frühen 70er Jahren gab es in der Türkei die interessante Situation, dass es zwar ein Mehrparteiensystem gab, aber die gewählte Regierung oft eine Regierung auf Abruf war, deren politischer Handlungsspielraum von den säkularen Eliten in Militär und Justiz stark eingeschränkt war. In diesem Kontext ist die politische Orientierung der Gülen-Bewegung entstanden. Man glaubte, man könnte die herrschende, säkulare Elite nicht über Wahlen aus den Zentren der Macht entfernen, sondern nur dadurch, dass man im Staatsapparat eigene, konservative Kräfte aufbaut und die säkulare Elite dadurch entmachtet.

Frage: Welches Verhältnis hat die Bewegung zu Erdogans Partei AKP?

Antwort: Wir müssen davon ausgehen, dass es seit Erdogans Amtsantritt 2003 eine Art inoffizielle Koalition gegeben hat zwischen der muslimisch-konservativen Parteipolitik der AKP auf der einen Seite und den Kadern der Gülen-Leute in der Bürokratie auf der anderen. Das war eine Aktion zur Entmachtung der säkularen Elite.

Frage: Irgendwann gab es einen persönlichen Bruch zwischen Erdogan und Gülen. Wie kam es dazu?

Antwort: Die beiden haben sich früher sehr geschätzt. Es hat auch persönliche Kontakte gegeben. Erdogan hat außerdem regelmäßig hohe Mitglieder seiner Partei und Minister nach Pennsylvania (in den US-Bundesstaat) zu Gülen entsandt und sich mit ihm beraten. Aber wir sehen, dass Erdogan in den mehr als zehn Jahren, die er alleine regiert, zunehmend autoritäre Tendenzen zeigt. Die AKP wird zunehmend von einer Volkspartei zu einer Führerpartei. Damit nahmen auch die Einwirkungsmöglichkeiten der Gülen-Bewegung ab. Das ist ein Grund für diesen Bruch. Ein anderer Grund ist, dass Gülen seit 1999 in den USA lebt und von daher außenpolitisch in einigen Fragen andere, moderatere Töne angeschlagen hat als Erdogan.

Frage: Erdogan wittert bei veröffentlichten Telefon-Mitschnitten und Korruptionsermittlungen ein Komplott der Bewegung. Inwieweit ist es Gülen möglich, diese zu steuern?

Antwort: Da kann man bislang nur spekulieren. Die Bewegung selbst sagt, es gebe keine innere Hierarchie. Ich gehe davon aus, dass es diese innere Hierarchie sehr wohl gibt. Das hat man sehr deutlich gesehen an bestimmten Punkten, an denen sich die politische Orientierung der Bewegung praktisch von einem Tag auf den anderen geändert hat, ohne dass man eine Diskussion gesehen hätte, die zu dieser Veränderung hätte führen können. Gleichzeitig wird die Aufrechterhaltung dieser hierarchischen Struktur aber vor allem außerhalb der Türkei gerade durch die weite Verbreitung der Bewegung zukünftig schwieriger.“

ZUR PERSON: Günther Seufert ist Experte unter anderem für die Türkei und das Verhältnis von Islam und Politik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Seufert lebte mehrere Jahre als freier Autor und Journalist in der Türkei. Von 1996 bis 2001 war er zunächst Referent und anschließend akademischer Leiter des Orient-Instituts in Istanbul.