Analyse Fatal verzockt: May steht vor Scherbenhaufen ihrer Politik
London (dpa) - Mit bleichem Gesicht und zitternder Stimme tritt Premierministerin Theresa May ans Rednerpult in ihrem Wahlkreis Maidenhead. Ihren Frust kann sie nicht verbergen. Bei der Parlamentswahl verfehlte sie nicht nur den geplanten klaren Sieg, sondern büßte auch noch ihre Regierungsmehrheit ein.
Ohne Not hatte sie im April eine Neuwahl angekündigt, ermutigt durch schlechte Umfragewerte der oppositionellen Labour-Partei. Die Rechnung ging nicht auf, wie die Auszählung der Stimmen ergab: Die Wähler verpassten der Konservativen eine schallende Ohrfeige. Nach der Auszählung verlor Mays Partei mindestens zwölf Sitze im Parlament und verpasste damit die erhoffte Mehrheit. Zurücktreten wollte May deswegen nicht.
Sie werde jetzt eine Regierung bilden, kündigte sie in London nach einem Treffen mit Königin Elizabeth II. an. Diese Regierung werde „Gewissheit“ bringen und das Land durch die Brexit-Verhandlungen führen. Die sollen, wie von Brüssel vorgeschlagen, planmäßig am 19. Juni beginnen.
Für die neue Regierung will sich May die Unterstützung der nordirisch-unionistischen DUP (Democratic Unionist Party) holen. Nur die Konservativen und die Unionisten hätten die Fähigkeit und den Auftrag, dem Land die dringend notwendige Stabilität zu geben, sagte May.
Dass die Premierministerin so hart von den Wählern abgestraft werden würde, hätte sie vermutlich selbst nicht erwartet. Als May antrat, wurde sie noch als Margaret Thatcher mit Herz gefeiert. Doch es gelang ihr nicht, die Bevölkerung zu einen. Sie forderte einen harten Brexit mit Austritt aus dem Europäischen Binnenmarkt und der Zollunion. Dass fast die Hälfte der Briten beim Brexit-Referendum im vergangenen Jahr für einen Verbleib in der EU gestimmt hatte, ignorierte sie. Ihre Aufrufe zur Einheit blieben hohl.
Labour-Chef Jeremy Corbyn fand hingegen immer mehr Anhänger. Keine Studiengebühren, bessere Gesundheitsversorgung, höhere Steuern für Reiche: Der Altlinke kämpft wie eine Art Robin Hood dafür, die Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern. Sein Konzept spricht vor allem junge Briten an. Manche sagen, er hätte die Labour-Partei mit seinen Anhängern regelrecht gekapert. Mit schmutzigen Tricks der Politik will er aber nichts zu tun haben. Dass er in seinem Wahlprogramm 10 000 Polizisten mehr verspricht, kam bei den Wählern mit Blick auf die Terroranschläge der vergangenen Wochen gut an.
Dagegen wurde im Wahlkampf so manches Hühnchen mit der 60-jährigen May gerupft. Sie war als frühere Innenministerin für den starken Personalabbau bei der Polizei mitverantwortlich. Auf starke Kritik stießen auch ihre widersprüchlichen Aussagen zum Brexit und zur Neuwahl, die sie ursprünglich nie abhalten wollte. Ein Protestsong der Band Captain Ska schaffte es sogar in die britischen Charts. Darin singt ein Chor: „She's a liar, liar ... No you can't trust her...“ („Sie ist eine Lügnerin, Lügnerin ....du kannst ihr nicht trauen“).
Im Fernsehen zogen die politischen Gegner kräftig über die Konservative her, ohne dass May sich wehren konnte - sie hatte zuvor die Teilnahme an gemeinsamen TV-Duellen abgelehnt. Bei Einzelauftritten wurde sie nicht selten vom Publikum ausgelacht. Geplante Einschnitte bei pflegebedürftigen Senioren bekamen von der Opposition das Etikett „Demenzsteuer“ verpasst. Kommentatoren in Medien warfen ihr zudem mangelhafte wirtschaftliche Kenntnisse vor.
Hinzu kommt, dass May als Person nicht gerade ein Sympathieträger ist; sie polarisiert stark. Auf viele wirkt sie herzlos und kalt. „Das ist ja nicht unbedingt die Frau, mit der man ein Dinner haben möchte“, lästerte ein Politikwissenschaftler vor Journalisten in London. Ihre mantrahaft wiederholten Phrasen brachten ihr den Spitznamen „Maybot“ ein - eine Mischung aus May und Roboter.
Corbyn wusste Mays Schwächen auszunutzen. Im Wahlkampf war er ganz in seinem Element. Anders als seine Widersacherin scheute er TV-Debatten nicht. Seine jahrzehntelange Erfahrung als Redner auf zahllosen Demonstrationen zahlte sich aus. Es gelang ihm, den Vorsprung der Konservativen bis auf wenige Prozentpunkte schrumpfen zu lassen.
Was Mays Schlappe für die Austrittsverhandlungen mit der EU bedeutet, ist noch ungewiss. Niemand weiß, ob unter diesen schwierigen Umständen bis zum März 2019 tatsächlich ein geordneter und für alle Seiten erträglicher EU-Austritt des Vereinigten Königreichs gelingt.