Frankreich: Junge Wilde wollen blaues Wunder
Ribeirão Preto/Paris (dpa) - Die Grande Nation hofft auf das „blaue Wunder“. Nach der Chaos-WM von 2010 mit Vorrunden-Aus, Affären und Trainingsstreik haben die „jungen Wilden“ um Raphael Varane und Paul Pogba mit ihrem Offensivfußball und bescheidenem Auftreten die Herzen der Franzosen im Sturm zurückerobert.
Vor dem Viertelfinale gegen Deutschland steht das ganze Land unter Hochspannung - fast wie bei der Heim-WM 1998. Die kämpferischen Ankündigungen der Profis heizen die Stimmung zusätzlich an: „Wir haben alle diese Wut in uns und werden alles geben, um Geschichte zu schreiben“, sagte Innenverteidiger Mamadou Sakho.
Selbst seriöse Tageszeitungen lassen sich vor dem Duell mit dem Nachbarn zu martialischen Tönen hinreißen. „Für 'Les Bleus' ist das keine Frage einer Revanche gegen Deutschland, auch wenn das Trauma des Halbfinals der WM 1982 immer noch lebendig ist. ... Es ist ein Krieg ohne Tote, von dem die Rede ist. Er geht um Worte, Tränen, Tore. Die Fußball-Rivalität zwischen Frankreich und Deutschland ist eine tragikomische Zänkerei“, kommentierte „Le Monde“.
Trainer Didier Deschamps und Kapitän Hugo Lloris wiesen jeden Revanche-Gedanken zurück. „Wir leben in der Gegenwart. Es gibt eine Vergangenheit zwischen beiden Ländern und wir schreiben unsere eigene Geschichte“, sagte Torwart Lloris am Donnerstag in Rio de Janeiro. Auch Deschamps wollte nur über die Partie im Maracanã sprechen. „Wir wollen dafür sorgen, dass es die schönste Seite der Geschichte wird“, sagte der Weltmeister von 1998.
Die Sportzeitung „L`Équipe“ setzt vor allem auf Topstürmer Karim Benzema. Über einem Bild des 27-jährigen Champions-League-Siegers von Real Madrid titelte das Blatt auf Seite eins: „Die tödliche Waffe?“. Der Sohn algerischer Einwanderer - der als einziger im Team die Nationalhymne nicht mitsingt und als Jugendlicher nach eigenen Angaben eher Brasilien als Frankreich die Daumen gedrückt hat - gehe mit viel Selbstvertrauen in das Match. Er habe eine Motivation extra: Endlich ein wichtiges Tor im Nationaltrikot erzielen, so „L`Équipe“.
In einer Online-Umfrage der Zeitung „Le Parisien“ äußerten 60 Prozent der Leser am Mittwoch die Überzeugung, dass Frankreich in Brasilien nicht nur Deutschland in die Knie zwingt, sondern auch den zweiten Titel nach 1998 holt. Nach Angaben des führenden französischen Anbieters von Sportwetten PMU setzten sogar 75 Prozent ihr Geld darauf, dass Frankreich Deutschland schon nach 90 Minuten auf die Heimreise schickt.
Die Bilanz macht Mut: Deschamps ist bei zehn WM-Spielen als Spieler und Trainer noch nie als Verlierer vom Platz gegangen. Der 45-Jährige, der 1998 das Team als Kapitän zum Titel führte, jagt den Rekord des Brasilianers Mario Lobo Zagallo (12), versucht aber immer wieder, die Euphorie seiner Landsleute zu dämpfen: „Vom Titelgewinn darf man noch nicht reden!“
Deschamps hat für das Viertelfinale alle Mann an Bord. Nach ausgeheilter Zerrung am rechten Oberschenkel trainierte Sakho ohne Schmerzen. Der Mann, der im Achtelfinale beim 2:0 gegen Nigeria pausiert hatte, wird wohl für Laurent Koscielny in die Startelf zurückkehren und sich um Thomas Müller kümmern. Wie wichtig er für das Team ist, beweist die Statistik: Seit der 0:3-Pleite im Testspiel gegen Brasilien vor einem Jahr haben die „Blauen“ mit Sakho auf dem Platz in 577 Minuten (mehr als sechs Spiele) keinen einzigen Treffer mehr kassiert.
Das Klima in der Gruppe sei super, „es sind alles klasse Jungs“, beteuerte Sakho. Anders als in früheren Nationalmannschaften der Franzosen gebe es keine Cliquenbildung oder Probleme zwischen Spielern verschiedener Hautfarben, Religionen oder Generationen, verkündete er stolz. Seit dem 1:2 gegen Deutschland im Freundschaftsspiel im Februar 2013 in Paris habe die Mannschaft „Riesenfortschritte“ gemacht. Deschamps nannte auf die Nachfrage nach dem wichtigsten Moment in der Entwicklung des Teams einen anderen: „Der 19. November!“ - den Tag, an dem mit dem 3:0-Playoffsieg gegen die Ukraine das WM-Ticket im letzten Moment gelöst wurde.
Die Fortschritte sind ein Verdienst von Disziplinfanatiker Deschamps, der den überragenden Spielmacher Samir Nasri vom englischen Meister Manchester City ausmusterte, weil der in den Playoff-Spielen gegen die Ukraine (0:2, 3:0) für Unruhe gesorgt hatte. Seitdem lautet die Bilanz: Sieben Siege, zwei Remis und 28:3 Tore.
Die wenigen Skeptiker in Frankreich werden am Freitagmorgen nach Domont 20 Kilometer nördlich von Paris blicken. Dort ist „Lolou“ im Laufe der WM zu Berühmtheit gelangt. Immer wenn der Glückshahn mit dem „Allez Les Bleus!“-Schal in ihrem Zeitungskiosk kräht, gelinge Frankreich an dem Tag auch ein Triumph, beteuern „Herrchen“ und „Frauchen“ Michel und Sophie Jourquin. Torwart Lloris setzt eher auf den neuen Zusammenhalt des Teams in Brasilien: „Wir wollen gemeinsam gewinnen, für unsere Familien, unsere Freunde, unsere Verwandten und für Frankreich.“