Gabriel: Bald eine Million Flüchtlinge
Berlin (dpa) - Im Gegensatz zur offiziellen Regierungsprognose rechnet Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) jetzt mit einem Anstieg der Flüchtlingszahlen in Deutschland auf bis zu eine Million.
„Vieles deutet darauf hin, dass wir in diesem Jahr nicht 800 000 Flüchtende aufnehmen, wie es das Bundesinnenministerium prognostiziert hat, sondern eine Million“, heißt es in einem der Deutschen Presse-Agentur vorliegenden Brief an die SPD-Mitglieder.
Erst am 19. August hatte das Innenministerium die Prognose von 450 000 auf 800 000 Flüchtlinge angehoben. Ein Ministeriumssprecher sagte am Montag in Berlin, es gebe keinen Anlass, von der bisherigen Zahl abzurücken.
Der SPD-Chef verteidigte die Entscheidung der Regierung, die Grenzen, besonders nach Österreich, vorübergehend wieder zu kontrollieren. Vor allem Autofahrer mussten am Montag viel Geduld aufbringen. So staute sich auf der A3 der Verkehr am Mittag bis Pocking bei Passau auf 14 Kilometern. Auf der Autobahn 8 bei Bad Reichenhall entstand ein Stau von drei Kilometern Länge.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte die Grenzkontrollen am Sonntag angeordnet, und dies mit dem Andrang an den Grenzen und Sicherheitsrisiken begründet.
Der Zugverkehr zwischen Österreich und Deutschland lief laut Bahn seit dem Morgen wieder weitgehend normal. Die am Sonntag um 17.00 Uhr verhängte Sperre sei wie geplant um 7.00 Uhr aufgehoben worden. Davon ausgenommen war zunächst die Strecke zwischen Salzburg und München.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hält an ihrer Überzeugung fest, dass Deutschland die Situation meistern wird. „Es bleibt dabei: Wir schaffen das“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert.
In einem dringenden Appell rief der UN-Hochkommissar für Menschenrechte die EU und andere Staaten auf, nach dem Beispiel Deutschlands und Schwedens mehr für Kriegsflüchtlinge zu tun. Rasche und entschlossene Aktionen zur Schaffung eines effektiven Asylsystems seien erforderlich, erklärte Said Raad al-Hussein am Montag in Genf bei der Eröffnung der 30. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates. Er begrüßte den Vorschlag von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, 120 000 Flüchtlinge auf die EU-Mitgliedstaaten zu verteilen.
Die EU-Innenminister treffen am Nachmittag in Brüssel zusammen, um Wege aus der Flüchtlingskrise zu suchen. Nach der vorübergehenden Wiedereinführung der Grenzkontrollen in Deutschland dringt die CSU auf rasche Entscheidungen auf europäischer Ebene, um mit dem Andrang von Flüchtlingen fertig zu werden. Mit den Kontrollen habe man die Chance, „in das gesamte System Ordnung zu bringen“, sagte Parteichef Horst Seehofer in München. Er forderte vor allem eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge, eine bessere Kontrolle der EU-Außengrenzen und mehr Hilfe vor Ort in den Flüchtlingslagern.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) gab sich vorsichtig optimistisch hinsichtlich eines Entgegenkommens der anderen EU-Staaten: „Nun, das sieht nicht so schlecht aus, wie es vor der Sommerpause aussah, aber ich halte nichts davon vor Verhandlungen schon Wasserstandsmeldungen abzugeben. Wir werden kämpfen“, sagte der CDU-Politiker am Sonntagabend in einem ARD-„Brennpunkt“.
Kurz bevor in Ungarn die verschärfte Gesetzgebung für Flüchtlinge in Kraft tritt, stieg die Zahl der aus Serbien kommenden Menschen wieder kräftig an. Allein am Sonntag zählte die Polizei 5809 neue Flüchtlinge - dreimal mehr als der Tagesdurchschnitt der vergangenen Wochen. Von Sonntag um Mitternacht bis Montagmorgen seien weitere 3280 Flüchtlinge hinzugekommen, teilte das Polizeipräsidium in Budapest mit.
Von Dienstag an gilt illegaler Grenzübertritt in Ungarn als Straftat, die mit Haft oder Abschiebung geahndet werden kann. Bislang ist es nur eine Ordnungswidrigkeit. Mehr als 5000 Flüchtlinge überquerten in der Nacht die ungarisch-österreichische Grenze.
Der EU-Militäreinsatz gegen kriminelle Schleuser im Mittelmeer kann ausgeweitet werden. Die EU-Staaten gaben am Montag grundsätzlich grünes Licht für den Eintritt in Phase II der Operation, wie Diplomaten berichteten. Einer deutschen Beteiligung muss noch der Bundestag zustimmen.