Gaddafi wird zum Herrscher ohne Land

Tripolis/Kairo/Tel Aviv (dpa) - Zwölf Tage nach Beginn der Unruhen in Libyen ist Staatschef Muammar al-Gaddafi die Herrschaft über das eigene Land weitgehend entglitten.

Seine Gegner nahmen am Sonntag sowohl die drittgrößte Stadt Misurata als auch die nur 50 Kilometer westlich der Hauptstadt Tripolis gelegene Schlüsselstadt Al-Sawija ein. Der Gaddafi-Clan herrsche damit nur noch in einigen Stadtvierteln in Tripolis sowie Sirte, der Heimatstadt des 68-Jährigen, berichtete der arabische Fernsehsender Al-Dschasira unter Berufung auf Augenzeugen. In der Hauptstadt herrschte gespannte Ruhe.

Der selbst ernannte Revolutionsführer denkt nach Informationen von Al-Dschasira indes nicht an Aufgabe oder Exil. Gaddafi wolle eher sterben als Tripolis verlassen und werde auch nicht nach Sirte oder irgendwo anders hingehen, berichtete der Sender unter Berufung auf engste Familienkreise.

Während sich der Gaddafi-Clan nach 42-jähriger Herrschaft im Militärkomplex Bab al-Asisija in Tripolis verschanzt hat, schafft die Opposition vollendete Tatsachen. Der ehemalige Justizminister Mustafa Abdul Dschalil bildete nach Angaben des Fernsehsenders Al-Arabija in Bengasi, der zweitgrößten Stadt des Landes, eine Übergangsregierung. Zugleich kündigte er demokratische Wahlen unter internationaler Beobachtung an.

Die Lage in Libyen blieb auch am Sonntag vielfach unübersichtlich, weil es keine unabhängige Bestätigung der Berichte vieler Augenzeugen gibt. So sagte ein Einwohner der Stadt Al-Sawija in einem Telefongespräch dem Sender Al-Dschasira, dass ein Großteil der Regierungstruppen übergelaufen sei. Die Aufständischen hätten Panzer und Waffen erbeutet. Nach anderen Berichten stehen Panzer der Gaddafi-treuen Einheiten weiterhin vor den Toren der Stadt.

Viele Einwohner der Millionenmetropole Tripolis standen am Sonntag vor Banken Schlange. „Als die Leute gesehen haben, was in anderen Städten passiert, sind sie schnell zur Bank gegangen, um Geld abzuheben und sich mit dem Wichtigsten einzudecken“, sagte ein Einwohner von Tripolis in einem Telefongespräch mit der Nachrichtenagentur dpa.

Nach seiner Einschätzung haben 90 Prozent der Geschäfte wieder geöffnet. Die Preise seien offenbar auf Anweisung von Gaddafi gesenkt worden. Allerdings blieben die Schulen in der libyschen Hauptstadt weiterhin geschlossen. „Die Menschen fühlen sich nicht sicher genug, um ihre Kinder in die Schule zu schicken“, sagte der Mann.

Die Angaben über die Sicherheitslage in der Mittelmeermetropole sind widersprüchlich. „Die einzigen Sicherheitskräfte in der Stadt sind Verkehrspolizisten. Es ist keine Armee zu sehen“, sagte der Libyer in dem Telefongespräch.

Im Netzwerk Twitter werden hingegen andere Stimmen laut. „Ich schwöre, dass jeder, der sagt, die Situation in Tripolis ist normal, ein Lügner ist. Wir fühlen uns wie kurz vor der Explosion“, schrieb ein Libyer.

Gaddafi schlägt nach Einschätzung der arabischen Tageszeitung „Asharq al-Awsat“ seine letzte Schlacht. Der Militärkomplex, in dem er sich aufhält, werde mit Panzern, gepanzerten Fahrzeugen und Raketenwerfern geschützt. Loyale Kämpfer hätten das Gebiet weiträumig abgeriegelt und alle Zufahrten gesperrt. Die Hälfte der Geheimdienstoffiziere habe den Dienst quittiert.

An der Grenze zwischen Libyen und Tunesien bahnt sich nach übereinstimmenden Berichten ein Flüchtlingsdrama an. Mehr als hunderttausend Menschen, vor allem ägyptische Gastarbeiter, hätten sich vor den Regierungstruppen in Sicherheit gebracht. Viele Menschen sind den Angaben zufolge mit nur wenigen Habseligkeiten im Grenzgebiet gestrandet.