„Aum“-Sekte Guru gehängt: Das Ende eines japanischen Staatsfeinds
Tokio (dpa) - Seine devoten Jünger durften sein schmutziges Badewasser und Tropfen seines Bluts trinken. Nur er, der Guru, habe die völlige Reinheit und Macht inne, verkündete er.
Getrieben vom Wahn, die Welt mit Gewalt „erlösen“ zu können, so hieß es, ließ Shoko Asahara im März 1995 seine Jünger losschlagen. Unter Tokios Regierungsviertel setzten Mitglieder seiner Endzeit-Sekte „Aum Shinrikyo“ in U-Bahn-Wagen Saringas frei und brachten damit 13 Menschen um. Tausende wurden verletzt. Eine rätselhafte Tat, für die Asahara nun, 23 Jahre später, gehängt wurde.
Als Einsatztrupps von Militär und Polizei den halbblinden Sektengründer zwei Monate später, am 16. Mai 1995, in einem dunklen Versteck finden, bietet sich ihnen ein jämmerliches Bild. Vor ihnen liegt bäuchlings im Dreck ein Mann mit zerzausten Haaren, der einst als erfolgreicher religiöser Führer Tausende zum Teil hochgebildete Menschen mit seinen Lehren in seinen Bann zog.
„Dieser schäbige Kerl soll Asahara sein?“ - so überrascht reagiert einer der Beamten, der den Einsatz gegen den Guru damals leitet. Der Guru, der einst auch Intellektuelle des Landes beeindruckt hatte und wiederholt Gast in Fernseh-Talkshows war, versteckte sich nach dem Giftgasanschlag und anderen Verbrechen in einer drei Meter langen und 50 Zentimeter niedrigen Geheimkammer zwischen dem zweiten und dritten Stockwerk seines Stützpunktes in der japanischen Provinz Yamanashi vor dem Zugriff der Staatsgewalt.
Seither ranken sich unzählige Gerüchte um den Sektenführer, der mit bürgerlichem Namen Chizuo Matsumoto hieß, 2006 zum Tode verurteilt und nun hingerichtet wurde, wie die japanische Regierung am Freitag bekanntgab. Niemand weiß bis heute genau, was den Guru mit dem Rübezahlbart zu seinen Verbrechen veranlasste.
Auch sein als Jahrhundert-Prozess bezeichnetes Gerichtsverfahren brachte keine großen Erkenntnisse über den Mann und seine Motive. Während des gesamten Prozesses schwieg Asahara oder murmelte nur Unverständliches vor sich hin. Jahrelang wartete er in seiner Todeszelle auf die Hinrichtung am Galgen, bis seinem Leben nun nach 63 Jahren ein Ende gesetzt wurde.
Von Geburt an auf einem Auge blind und auf dem anderen sehbehindert wuchs Asahara als Sohn eines Herstellers traditioneller Reisstroh-Matten als eines von sieben Kindern in bitterarmen Verhältnissen in einem Dorf im Süden Japans auf. Obwohl er ausreichend sehen konnte, schickte ihn sein Vater aus finanziellen Gründen auf eine Blindenschule. Später bewarb sich Asahara an der Elite-Universität von Tokio, fiel jedoch durch die Aufnahmeprüfung. Stattdessen wandte er sich dem Studium der Akupunktur und der traditionellen chinesischen Medizin zu.
Er gründete eine Yogaschule, aus der die Sekte „Aum Shinrikyo“ („Höchste Wahrheit“) hervorging. Asahara nutzte das spirituelle Vakuum, das nach den wirtschaftlichen Boom-Jahren in Japan entstanden war und die junge Generation zu neuen Religionen wie „Aum“ trieb. Tausende junger Menschen sahen in Asahara eine charismatische Vaterfigur, von der sie sich verstanden fühlten und die ihnen eine Alternative bot, um aus den Zwängen der Gesellschaft auszubrechen.
Aber Asahara wollte mehr. Mit dem politischen Arm seiner Sekte kandidierte er Ende der 80er Jahre für das japanische Parlament, scheiterte jedoch kläglich. Die Sekte soll daraufhin in finanzielle Probleme geraten sein. „Aum“ müsse sich bewaffnen, um die Apokalypse zu überleben, sagte Asahara nun. Vom Staat als religiöse Organisation anerkannt, nutzte die Sekte ihre Steuerfreiheit aus, heuerte fähige junge Wissenschaftler der besten Universitäten an und ließ am Fuße des Berges Fuji ein ganzes Arsenal biochemischer Waffen produzieren.
Das Saringas-Attentat in Tokio soll ein Versuch der Sekte gewesen sein, eine geplante Razzia der Polizei gegen ihr Hauptquartier am Fuji zu verhindern.
Der Anschlag wurde für Japan zu einem gesellschaftlichen Trauma. Er zerstörte die Überzeugung der Japaner, in einem Sicherheitsparadies zu leben. Der Polizei wurde damals vorgeworfen, nicht schon viel früher gegen Asahara vorgegangen zu sein. Noch heute leiden viele Opfer des Anschlags unter den psychischen, körperlichen und finanziellen Folgen.
Sein Leben in Armut, seine Kindheitserfahrungen und sein wiederholtes Scheitern führen Experten als Gründe an, dass Asahara möglicherweise Rachegefühle gegenüber der Gesellschaft hegte und zugleich von Machtgier besessen war. Doch statt sich intensiv mit den Hintergründen der nationalen Katastrophe auseinanderzusetzen, seien Asahara und seine Jünger nur zu unmenschlichen - und damit nicht-japanischen - Monstern gemacht worden, beklagte einer der Überlebenden des Saringas-Anschlags.
„Die Gräueltaten sind nur das Endprodukt“, sagte ein früherer Anwalt Asaharas. Statt Asahara und seine Komplizen zu hängen, wäre es aus Sicht des Juristen wichtiger gewesen, die genauen Ursachen und gesellschaftlichen Zusammenhänge zu untersuchen, die zu den Verbrechen der Sekte führten. Und mit dieser Meinung steht er in Japan längst nicht alleine da.
Die beiden aus „Aum“ hervorgegangenen Nachfolgegruppen „Aleph“ und „Hikari no Wa“ fanden in den Jahren nach der Tat zahlreiche Anhänger - und wurden einer scharfen Überwachung unterzogen. Der Staat war überzeugt: Selbst mehr als 20 Jahre nach der Inhaftierung Asaharas standen die Gruppen weiter unter starkem Einfluss des Gurus hinter Gittern.