Analyse Heimat - neue politische Karriere für einen alten Begriff

Brüssel (dpa) - Leise wabernder Nebel über sanften Hügeln, der Kölner Dom im Abendrot, Schwarz-Rot-Gold flatternd am Reichstag - und dazu das Deutschlandlied. So warb die Alternative für Deutschland im Wahlkampf.

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„Holen Sie sich Ihr Land zurück“, sagte Spitzenkandidatin Alice Weidel auf Facebook in eine authentisch wackelige Selfiekamera. „Deutschland zuerst - weil wir auch in Zukunft dieses Land unsere Heimat nennen wollen!“

Unsere Heimat? Vielen wird mulmig dabei, jedenfalls bei dieser patriotischen Pathosheimat, in der Menschen fast gar nicht vorkommen und keinesfalls solche mit Kopftuch. Das Unbehagen bekam gerade erst Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt zu spüren, die eigentlich nur „den Rechten“ kontra geben wollte mit den Worten „Es ist unsere Heimat“ und in Sachen Heimatliebe lasse man sich von niemandem übertreffen. Über die Thüringerin brach ein Sturm los, auch in der eigenen Partei. „Heimat ist rassistische Kackscheisze“, höhnte, orthografisch eigenwillig, Nutzerin Jette alias @_ichnicht auf Twitter.

Aber damit ist die Debatte nicht beendet, sie beginnt vielleicht erst richtig, nachdem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Motiv am Tag der Deutschen Einheit aufgriff. „Ich bin überzeugt, wer sich nach Heimat sehnt, der ist nicht von gestern“, meinte Steinmeier. „Im Gegenteil: Je schneller die Welt sich um uns dreht, desto größer wird die Sehnsucht nach Heimat.“ Das dürfe man nicht den Nationalisten überlassen. Heimat, das sei gerade nicht das „Wir gegen die“ vom rechten Rand, es sei ein Ort des „Wir“, ein Ort, der verbinde „über die Mauern unserer Lebenswelten hinweg“.

Was also ist Heimat - und braucht man das im 21. Jahrhundert? Umfragen sind eindeutig: Neun von zehn Menschen in Deutschland finden Heimat sehr wichtig oder wichtig. „Gar nicht wichtig“, antwortete in einer Infratest-Studie 2015 nur ein Prozent von 1001 Befragten.

Und die überwältigende Mehrheit weiß genau, was Heimat ist. Der Definition „Menschen, die ich liebe beziehungsweise mag, zum Beispiel Familie, Freunde, Verwandtschaft“ stimmten 92 Prozent der Befragten sehr stark oder stark zu. Auf ähnlich hohe Werte kamen „mein Zuhause“ und „Gefühle und Empfindungen zum Beispiel Wohlfühlen, Geborgenheit, Sicherheit, Zufriedenheit und so weiter“.

Geborgenheit, Sicherheit - die Sehnsucht ist mächtig in einer Welt, die aus den Fugen scheint. Es ist nicht nur der polternde US-Präsident, der mit sekündlich neuen Aufregern über die Twitter-Timelines huscht, nicht nur der Feuerstrahl nordkoreanischer Raketentests nebst klatschendem Diktator abends in der „Tagesschau“, die das Befremden nähren. Es ist das Twitter-Rauschen selbst, diese Unübersichtlichkeit und Unberechenbarkeit.

Es sind die fast täglichen Attacken aus dem Nichts - ob nun von hasserfüllten Messerstechern in Marseille oder schießwütigen Massenmördern in Las Vegas. Es ist die Angst um den eigenen Job in einer Welt voller Roboter, die Furcht, die Miete könnte steigen bis über die Schmerzgrenze. Globalisierung steht für eine Welt, die kein Einzelner mehr überblickt und auf die alte Institutionen wie Politik Gewerkschaft, Kirche scheinbar kaum noch Einfluss haben.

In diesem Wirrwarr sind viele auf der Suche nach festem Grund, nach einem Ort „wo ich mich auskenne“, wie Steinmeier es ausdrückte. Heimat, ein Sehnsuchtsort: 89 Prozent in der Infratest-Umfrage verbanden damit ein positives Gefühl.

Aber gemeint ist hier ganz offensichtlich eben diese wohlige Gefühlsheimat - der Rückhalt bei guten Freunden, der Duft von Apfelkuchen in Omas Wohnküche. Deutschland als Kategorie spielte erstaunlicherweise gar keine Rolle in der Infratest-Studie. Genauso war es schon in einer Emnid-Umfrage 2010: Politik Fehlanzeige. 1999, als Emnid noch danach fragte, nannten gerade mal elf Prozent bei Heimat: Deutschland.

Das verblüfft vielleicht nur auf den ersten Blick in einem Land, das seit mehr als 200 Jahren ringt und hadert mit diesem Begriff. Schon der Dichter Joseph von Eichendorff trauerte melancholisch um eine untergehende Heimat, auf den Flächenfraß der Industrialisierung reagierten die Biedermeier-Deutschen Ende des 19. Jahrhunderts mit einer „Heimatschutzbewegung“. Dann wurde die Heimat von der Politik gekapert - der Erste Weltkrieg sollte sie angeblich bewahren, ebenso wie der Zweite, den die Nationalsozialisten zum Kampf um Blut und Boden stilisierten.

Der brutale Missbrauch verätzte den Begriff, danach half eigentlich nur Kitsch. Das alte Westdeutschland schwelgte in Heimatfilm und Musikantenstadl, die offizielle DDR säuselte „Und wir lieben die Heimat, die schöne“. Nur die alten Fragen blieben: Wo gehöre ich eigentlich hin? Die Antwort spiegelt sich in den Umfragen: Heimat, das sind Familie, Freunde, Wohnort.

Die Ankunft von mehr als einer Million Flüchtlingen hat mit diesem eng umzirkelten Wohlfühlort wenig zu tun. In der Infratest-Umfrage auf dem Höhepunkt der Welle 2015 sagten 76 Prozent, die „derzeitige Zuwanderung“ habe an der Bedeutung von Heimat nicht viel verändert. Nur, dass eben sehr viele Suchende dazukamen. Die kleine, private „Wir“-Heimat taugt durchaus auch für die 18,6 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, die das Statistische Bundesamt 2016 zählte.

Heimat ist also für die allermeisten gar nicht Vaterland und schwarz-rot-gold. Doch herrscht in der politischen Debatte ein rechtes Durcheinander. Die AfD nutzte dies und erreichte so bei der Bundestagswahl 12,6 Prozent. In den ostdeutschen Ländern waren es sogar 22,5 Prozent.

Die Gründe sind vielfältig, aber Entfremdung ist zumindest ein Erkläransatz. Denn zum völligen Unverständnis vieler im Westen, die nach 1989 den Untergang einer staubgrauen und schwefelgelben Diktatur bejubelten, verloren viele auch ein Stück Lebensgeschichte in der alten „Heimat DDR“. Nicht nur Millionen Jobs verschwanden, sondern auch der Geruch der Kindheit, die Farben und Geräusche. Dass Pittiplatsch bedeutsamer war als Plumpaquatsch - sinnfrei, aber schön -, wurde im Westen schlichtweg ignoriert.

So viel Verlust - die Populisten predigten als Antwort Selbstbehauptung. Gegen den Islam, gegen Migranten, gegen den Euro und die Europäische Union, gegen die „Altparteien“ und die als eidesbrüchig beschimpfte Bundeskanzlerin. Die angebliche Lösung: Wenn nur alles kleiner wäre, wenn nur wir Deutschen die Kontrolle hätten, wenn nur nicht so viele so viel Geld von uns verlangten, dann wäre alles wieder gut und heil.

Diese Botschaft nutzt die AfD keineswegs allein - sie dient auch Nationalisten in Flandern und Friesland, Separatisten in Schottland und Katalonien. Dass die Rückbesinnung auf kleinste Stammesgruppen in einer allseits vernetzten Welt wie aus der Zeit gefallen scheint, dass bei den Briten der Versuch der Selbstamputation von der EU gerade ziemlich schmerzhaft aussieht - all das scheint die Vereinfacher kaum zu bremsen.

Der Berliner Politologe Oskar Niedermayer nennt das ein „Riesenproblem“ und warnt davor, es zu ignorieren. „Natürlich ist es aufgrund unserer Vergangenheit ganz schwierig, über deutsche Identität, Leitkultur, Heimat und so weiter, über dieses ganze Konglomerat, zu diskutieren“, sagt der Wissenschaftler. „Aber die Diskussion muss sein.“