Hintergrund: Der Stinkefinger

Berlin/Tübingen (dpa) - Er kostete Stefan Effenberg wohl seine Karriere als Nationalspieler, bescherte Wolfgang Clement Ärger im Parlament und sorgte sogar für diplomatische Verwicklungen zwischen Deutschland und Griechenland: Der Stinkefinger löst immer wieder große Debatten aus.

Kleine Geste, große Wirkung.

Seit Tausenden von Jahren schon gilt es als Provokation, den Mittelfinger herauszustrecken, so wie es SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück jetzt für ein Foto getan hat. Die Ursprünge gehen Wissenschaftlern zufolge auf das antike Rom und Griechenland zurück. Um eine „sexualisierte Geste“ handelt es sich, wie der Kommunikationswissenschaftler Alexander Baur von der Universität Tübingen sagt, der sich mit der Rhetorik der Beleidigung befasst. „Ein Phallussymbol als Drohgebärde“ - häufig von Männern angewandt.

Im alten Rom war das auch eine Bestrafungs- und Demütigungsgeste. „Das war damals sehr unangenehm, weil es um den Finger im Hintern als Demütigung ging“, sagt Baur. „Die historische Dimension ist eher unschön. Aber das hat sich natürlich mittlerweile überlebt.“

Für einen Aufschrei in Deutschland sorgte der Stinkefinger 1994, als Stefan Effenberg ihn - inzwischen legendär - bei der Fußball-WM in den USA den deutschen Fans entgegenstreckte und so seine Nationalmannschafts-Karriere weitgehend beerdigte. Zwei Jahre später schaffte es der Stinkefinger als - wie Baur sagt, auch interkulturell verständliche Geste - in den Duden.

Englands Fußball-Star David Beckham machte es Effenberg Jahre später nach - wenn auch ohne die drastischen Konsequenzen. Und auch Formel-1-Fahrer David Coulthard konnte sich nicht so recht zusammenreißen, als sein Konkurrent Michael Schumacher ihn im Jahr 2000 - möglicherweise nicht ganz regelkonform - überholte.

Aber nicht nur im Sport, wo er seit jeher Teil der Fankultur ist, machte der Stinkefinger Schlagzeilen. Ebenfalls im Jahr 2000 zeigte der damalige SPD-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Wolfgang Clement, Jugendlichen auf der Weltausstellung Expo den Mittelfinger. Sie hatten ihn gefragt: „Wer bist'n Du?“ Er tat das zwar später als „Flachs“ ab, bekam aber dennoch Ärger im Landesparlament. 2010 zeigte Verdi-Chef Frank Bsirske bei einer Demonstration gleich den doppelten Stinkefinger.

Eine der wenigen Frauen, die wegen der Geste für Aufregung sorgten, ist ausgerechnet die griechische Liebesgöttin. Der „Focus“ hatte sie 2010 als „Stinkefinger-Aphrodite“ auf den Titel gehoben und damit auf die desolate Finanzlage Griechenlands angespielt. So schließt sich der Kreis zu den antiken Ursprüngen.

Der Stinkefinger kann aber auch nützen, sagt Kommunikationswissenschaftler Baur - als „berechnete, kalkulierte Beleidigung“. Die sei es im Fall des provokanten Steinbrück auf dem Cover des SZ-Magazins, auch wenn seine Geste eigentlich keinen wirklichen Adressaten habe. „Der Schwächere, der sich der Beleidigung bedient, kann einen integrativen Effekt erzielen - als Underdog, der sich nicht anders zu helfen weiß.“