Analyse Könnte der Asylstreit die Regierung sprengen?
Berlin (dpa) - In der Union streiten sie erbittert, ob auch in Zukunft jeder die deutschen Grenzen passieren darf, der hierzulande einen Asylantrag stellen will. Innenminister Horst Seehofer (CSU) will das beenden.
Er will zumindest solche Ausländer zurückweisen lassen, die in anderen EU-Staaten bereits registriert wurden. Am liebsten vielleicht auch noch jene, die keine Papiere bei sich haben. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ist dagegen. Sie hofft weiter auf eine gemeinsame europäische Asylpolitik, die diesen Namen auch verdient.
Wie der Streit ausgeht ist offen. Seehofer sagt am Mittwoch zu Journalisten: „Ich müsste jetzt Hellseher sein, Ihnen vorherzusagen, wir werden auf jeden Fall eine Lösung finden. Wir werden uns ganz, ganz intensiv darum bemühen, dass es diese Lösung gibt.“ In der Union hält man es allerdings für möglich, dass es wegen der komplizierten Sachlage doch noch keine Lösung in der laufenden Woche geben wird - wie sich das die Unionsfraktion eigentlich wünscht.
Welche Szenarien sind denkbar?
SEEHOFER SETZT SICH DURCH: Seine Forderung, einen Teil der Asylbewerber an der Grenze abzuweisen, ist nicht nur in der CSU populär. Die Erfahrung zeigt, dass es oft schwierig ist, die Ausreise von Menschen, die nicht schutzberechtigt sind, durchzusetzen. Auch einige CDU-Politiker - im Bundestag und in den östlichen Bundesländern - haben die Hoffnung, dass es bald mehr europäische Solidarität in der Asylpolitik geben könnte, schon aufgegeben.
In der Unionsfraktion hat sich am Dienstag kein einziger Unterstützer der Kanzlerin zu Wort gemeldet, sondern vor allem jene, die sich der Seehofer-Forderung anschlossen. Intern wurde das als Signal dafür gewertet, dass die Abgeordneten mitten in der Debatte über das Versagen bei der Registrierung von Flüchtlingen ein Signal der Ordnung sehen wollen.
Die Kanzlerin, die ein Gespür für Stimmungen hat, könnte sich deshalb gezwungen sehen, nachzugeben. Ohne eine gleichzeitige europapolitische Komponente würde sie das aber wohl kaum machen - sie käme dann geschwächt aus dieser ersten großen Konfrontation heraus. Die CSU könnte bei der Landtagswahl im Oktober mit dem Argument, sie habe in Berlin in Sachen Asyl den Schalter umgelegt, punkten.
MERKEL SETZT SICH DURCH: Die Bundeskanzlerin hat der neuen Populisten-Regierung in Rom schon Hilfe bei der Bekämpfung der hohen Jugendarbeitslosigkeit in Italien versprochen. Wenn es ihr kurzfristig gelingen würde, auf europäischer Ebene Fortschritte bei der Verteilung und Versorgung von Flüchtlingen zu erreichen, müsste es keine Rückweisungen an der deutschen Grenze geben.
Die CSU könnte - wenn Merkel tatsächlich substanzielle Verbesserungen aushandeln könnte - vielleicht trotzdem profitieren. Nach dem Motto: Wenn wir nicht Druck gemacht hätten, wäre es nie so weit gekommen. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz, dessen Land von den Zurückweisungen direkt betroffen wäre, stellt sich eher hinter Seehofer als hinter Merkel. Bei einem Besuch in Berlin betont Kurz zwar, er werde sich in den deutschen Streit nicht einmischen. Zugleich schwärmt er von einer neuen Achse Wien-Berlin-Rom gegen offene Grenzen, die er gemeinsam mit Seehofer bilden will.
ES GIBT EINEN KOMPROMISS: Seehofer schränkt seine Forderung ein. Zum Beispiel könnte er nur auf der Zurückweisung von Ausländern mit Wiedereinreiseverbot bestehen. Oder er macht die Grenzen nur für diejenigen dicht, die in einem anderen EU-Land schon einen Asylantrag gestellt oder eine Anerkennung als Flüchtling erhalten haben. Da könnte vielleicht auch die SPD mitgehen. Der SPD-Innenpolitiker Burkhard Lischka sagt: „Wir können über die Frage von mehr Zurückweisungen von Flüchtlingen, die bereits in einem anderen EU-Land einen Asylantrag gestellt haben, gerne diskutieren.“ Dies dürfe aber „nicht wieder wie im Herbst 2015 in einem nationalen Alleingang“ geschehen, sondern nur nach Gesprächen mit den unmittelbar davon betroffenen europäischen Nachbarn.
Denkbar wäre auch ein zeitlicher Aufschub. Seehofer und Merkel könnten sich darauf einigen, die Forderung nach Rückweisungen als Druckmittel für die Verhandlungen der Kanzlerin beim EU-Gipfel am 28. und 29. Juni zu nutzen. Gut möglich, dass beide neben Österreich auch Italien und Frankreich als Verbündete gewinnen könnten. Kurz ist als Migrations-Hardliner bekannt, die neue rechtspopulistische Regierung in Italien fährt ebenfalls eine härtere Gangart gegenüber Flüchtlingen - und selbst der junge französische Präsident Emmanuel Macron, ein bekennender Europa-Reformer, lässt laut CSU zu Tausenden Migranten an den Grenzen abweisen - die meisten direkt nach Italien.
Merkel und Seehofer könnten etwa sagen: Wenn die Kanzlerin beim EU-Gipfel am 28. Juni keine Fortschritte erzielt, kommt der Masterplan Migration - inklusive Zurückweisungen. Anfang kommender Woche hat Merkel bei zwei wichtigen Terminen Gelegenheit, an der von ihr angepeilten europäischen Lösung zu arbeiten: Am Montag kommt der neue italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte zum Antrittsbesuch ins Kanzleramt. Und am Dienstag ist beim deutsch-französischen Ministertreffen Gelegenheit, die Sache mit Macron zu besprechen.
DIE REGIERUNG PLATZT: Wahrscheinlich ist das nicht, aber auch nicht undenkbar. Selbst bei der SPD, die in den Wählerumfragen zurzeit nicht gut dasteht, wächst inzwischen die Sorge, dass dieses Szenario Realität werden könnte. Die Politikverdrossenheit könnte wachsen, wenn nach der schier endlosen Regierungsbildung jetzt - nach nur drei Monaten Regierungsarbeit - auch noch eine vorgezogene Neuwahl drohen würde. Der CSU könnte das vielleicht nutzen.
Doch die Kanzlerin und Seehofer würden sich in diesem Fall beide auf der Verliererseite wiederfinden. Dass Merkel in diesem Fall noch einmal als Spitzenkandidatin in eine Bundestagswahl ziehen würde, wäre wohl ausgeschlossen. Und auch Seehofer dürfte dann aus seinem „Super-Innenministerium“ ausziehen müssen.