Analyse Maaßen und die Radikalisierung des bürgerlichen Milieus

BErlin · Es ist eine dramatische Zustandsbeschreibung der deutschen Gesellschaft, die Regierungssprecher Steffen Seibert im Haus der Bundespressekonferenz vorträgt. Es geht um Chemnitz und Köthen, wo nach Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Flüchtlingen zwei Menschen gestorben sind.

Foto: dpa

Seibert konstatiert einen besorgniserregenden Antisemitismus, eine Zunahme des Rechtsradikalismus. Die „Gewaltverbrechen, die durch einzelne Flüchtlinge begangen werden“, nennt er als dritte „Herausforderung“. Dann sagt er: „Klar ist, es gibt ein staatliches Gewaltmonopol. Das muss man allen sagen. Das ist zu verteidigen.“

Wenn eine Regierung so betonen muss, dass Selbstjustiz und Straßengewalt tabu sind, weiß man, dass wirklich etwas schief läuft. In so einer Situation - wenn Verbrechen politische Debatten, Protestkundgebungen und gewalttätige Übergriffe auf Unschuldige nach sich ziehen - sind die Sicherheitsbehörden besonders gefragt. Dass sich ausgerechnet jetzt der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz mit Rücktrittsforderungen konfrontiert sieht, macht die Sache nicht besser.

Vor allem FDP, Grüne und Linkspartei sehen kaum mehr eine Zukunft für Hans-Georg Maaßen als Verfassungsschutz-Chef. Sie sind schon länger unzufrieden mit dem Präsidenten des Inlandsgeheimdienstes. Sein Interview in der „Bild“-Zeitung, in dem er Ende vergangener Woche Zweifel daran äußerte, dass es bei Kundgebungen in Chemnitz nach der Bluttat vom 26. August zu „Hetzjagden“ auf unbeteiligte Ausländer gekommen sei, ist für sie da nur der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Die SPD drückt ihre Kritik an Maaßen nicht ganz so drastisch aus. Parteichefin Angela Nahles sagt, wenn Maaßen für seine Äußerungen keine Belege liefere, müsse er den Posten räumen. CDU-Innenpolitiker Armin Schuster findet das übertrieben. Er sagt: „Maaßen hat mit seinem Interview ungeschickt agiert, das ist klar zu kritisieren, aber kein Grund für politisch motivierte Rücktrittsforderungen.“

Die Informationen, die seine Meinung zu den Vorfällen in Chemnitz stützen sollen, hat Maaßen jetzt dem Bundesinnenministerium vorgelegt. Der Bericht liegt auch im Kanzleramt vor. Veröffentlicht werden soll er erst einmal nicht. Auch ob Seehofer Maaßens Argumentation überzeugend findet, ist noch nicht bekannt.

Nachdem der Innenminister am Freitag noch erklärt hatte, Maaßen genieße sein Vertrauen, klang er am Wochenende etwas vorsichtiger. Ganz der gestrenge Dienstherr, sagte er der ARD: „Ich erwarte eine Begründung, auf die er seine These stützt.“ Jetzt wolle er erst einmal in Ruhe lesen, was ihm Maaßen aufgeschrieben habe, sagt Seehofer.

Auch diejenigen, die Seehofer schon länger kennen, sind nicht sicher, ob der Minister weiter seine schützende Hand über Maaßen halten wird - auch wenn Maaßen und Seehofer die Kritik an den Entscheidungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Flüchtlingsherbst 2015 eint.

Und dann ist da noch der teils offen, teils unterschwellig vorgetragene Vorwurf, Maaßen sympathisiere mit der AfD und verhindere deshalb vielleicht, dass seine Behörde die Partei genauer unter die Lupe nehme. Armin Schuster, der Vorsitzende des für die Geheimdienste zuständigen Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestages, hält das jedenfalls für eine Unterstellung.

Dass die AfD eines Tages zum Beobachtungsobjekt werden könnte, ist seiner Ansicht nach auch nicht ausgeschlossen. Schuster sagt: „In der AfD gibt es Politiker wie Björn Höcke, die eine Grenzverschiebung nach rechts aktiv betreiben, und andere, die dabei naiv zusehen. Denen fehlt jede Sensibilität dafür, dass sie so den Boden bereiten für Rechtsextremisten, die vor Gewalt nicht zurückschrecken.“ Diese Entwicklungen dürften die Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern nicht aus dem Auge verlieren.

Auch Steffen Königer, Beisitzer im AfD-Bundesvorstand, urteilt, dass seine Parteikollegen in den vergangenen Tagen nicht immer eine gute Figur abgegeben hätten. Dass Höcke gemeinsam mit den AfD-Landesvorsitzenden von Brandenburg und Sachsen nach der tödlichen Messerattacke am Rande des Chemnitzer Stadtfestes zu einem Trauermarsch aufgerufen hatte, hielt er zwar für „richtig und wichtig“. Doch dass die AfD in Chemnitz gemeinsam mit Pro Chemnitz und Pegida marschiert ist - am Rande der Demonstration kam es zu Angriffen rechter Demonstranten auf Pressevertreter - ärgert ihn nach eigenem Bekunden.

Aus den Sicherheitsbehörden hört man Besorgnis darüber, dass in den vergangenen Tagen in Chemnitz bei Kundgebungen mehrfach „normale Bürger“ neben Rechtsextremisten zu sehen waren. Die Situation erinnert an die Zeit der Flüchtlingskrise, als nicht nur bekannte Extremisten, sondern auch Menschen, die keiner rechten Gruppierung angehörten, Flüchtlingsunterkünfte angriffen. Maaßen sprach kürzlich in einer Rede von Menschen, „die zu einem wesentlichen Pfeiler auch der Gesellschaft zählen“, die plötzlich Hassbotschaften im Internet verbreiteten und Häuser anzündeten. Er erkannte eine besorgniserregende „Radikalisierung des bürgerlichen Milieus“.

(dpa)