Tod im Kühllaster Mammutprozess gegen Schlepper beginnt in Ungarn

Budapest (dpa) - Am Vormittag des 27. August 2015 machen die österreichischen Polizisten Harald Seitz und Gerald Gangl in einer Autobahn-Bucht bei Parndorf im Burgenland eine grausige Entdeckung.

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Den führerlosen Kühllaster mit ungarischem Kennzeichen und slowakischer Firmen-Aufschrift hatte Seitz dort schon am Vorabend bemerkt. Als die beiden Beamten nun die Ladetür öffnen, schlägt ihnen Verwesungsgeruch entgegen. Ihr Blick fällt auf ineinander verkeilte, verrenkte Körper mit kaum zu erkennenden Gesichtern.

Es sind, wie sich wenig später herausstellt, die Leichen von 71 Menschen - 59 Männern, acht Frauen und vier Kindern. Von Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Auf ihrer von Schleppern organisierten Fahrt nach Mitteleuropa erstickten sie qualvoll im Laderaum des Kühllasters.

Die Nachricht platzt an jenem Tag mitten in die eben in Wien tagende Westbalkan-Konferenz. Daran nimmt auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) teil. Einziges Thema ist die damals massive Flüchtlingswanderung in die Mitte Europas. Die Bilder von Parndorf trugen, wie man heute weiß, entscheidend dazu bei, dass Merkel am 5. September die Grenzen Deutschlands für Zehntausende in Ungarn festsitzende Flüchtlinge öffnen ließ.

Tragödien dieses Ausmaßes ereigneten sich infolgedessen auf dem Landkorridor zwischen der Türkei und Österreich nicht mehr. Die 71 Toten machte das nicht wieder lebendig. Wenn aber an diesem Mittwoch in der südungarischen Kleinstadt Kecskemet der Strafprozess gegen elf mutmaßliche Verantwortliche eines internationalen Schlepperringes beginnt, sieht das Verbrechen an jenen Menschen zumindest einer juristischen Aufarbeitung entgegen.

Österreich trat den Fall an Ungarn ab, weil die Opfer den Gerichtsmedizinern zufolge bereits auf ungarischem Gebiet gestorben waren. Außerdem wurden die meisten Tatverdächtigen - ein Afghane, neun Bulgaren, ein weiterer Bulgare ist flüchtig - in Ungarn verhaftet. Ihr Operationsgebiet war Südungarn, das Grenzgebiet zu Serbien. Kecskemet, 100 Kilometer südlich von Budapest, ist eines der Zentren dieser Region. Den „Todes-Lkw“ hatten die Schlepper bei einem dortigen Gebrauchtwagenhändler gekauft. Ihr Logistiker, ein Bulgare mit libanesischem Hintergrund, hatte in einem Grünviertel des beschaulichen Städtchens eine Wohnung gemietet.

Jetzt kommt auf das Gericht von Kecskemet ein Mammutprozess zu. 26 Anklagepunkte werden zu verhandeln, 59.000 Seiten an Ermittlungsmaterial zu würdigen und 15 Sachverständige anzuhören sein. Zehn Dolmetscher werden aufgeboten, um zwischen Ungarisch und Paschtu - der Muttersprache des afghanischen Angeklagten - sowie Bulgarisch zu übersetzen.

Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten vor, zwischen Februar und August 2015 insgesamt 1200 Menschen über Ungarn nach Österreich geschmuggelt und dabei mindestens 300 000 Euro verdient zu haben. Immer wieder seien Flüchtlinge in Laderäumen von Lkws zusammengepfercht worden. Nicht selten seien sie dem Tod nur knapp entronnen.

Anklagepunkt 25 beinhaltet den „Todes-Lkw“ von Parndorf. Vier Männer sind darin des Mordes beschuldigt: der Afghane L., der Kopf der Bande, der Bulgare M., sein Stellvertreter, sowie dessen Landsmänner I. als Fahrer des Lkws und T. als „Scout“, also Fahrer eines Begleitfahrzeugs. Die Staatsanwaltschaft behauptet, diese vier Akteure hätten den Tod ihrer Opfer wissentlich in Kauf genommen - deshalb der Mordvorwurf. Bewahrheitet er sich, kann in Ungarn eine lebenslange Haftstrafe ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung verhängt werden.

Zugleich sind nur sieben Zeugen vorgeladen. Der Staatsanwalt dürfte seine Anklage vor allem auf abgehörte Telefongespräche zwischen den mutmaßlichen Bandenmitgliedern stützen. Ein Recherche-Verbund deutscher Medien berichtete vorige Woche unter Berufung auf die ihm zugespielten Abhörprotokolle, dass die ungarische Polizei den Schlepperring schon knapp zwei Wochen vor dem „Fall Parndorf“ ausführlichst abgehört habe. Sogar die Gespräche der an der Todesfahrt Beteiligten zeichnete die Behörde demnach auf.

Daraus lassen sich erdrückende Beweise für die Mordanklage ableiten. I., der Fahrer des „Todes-Lkws“, berichtete demnach mehrfach, dass die Flüchtlinge im Laderaum schreien und an die Wände klopfen würden. Daraufhin soll L., der afghanische Bandenführer, seinem Vize M. die an I. weiterzuleitende Weisung gegeben haben: „Sag ihm, er soll nur weiterfahren. Und falls sie sterben sollten, soll er sie dann in Deutschland im Wald abladen.“

Die Enthüllungen von NDR, WDR und „Süddeutscher Zeitung“ werfen aber auch die Frage auf, warum die ungarischen Behörden nicht eingeschritten sind. In Budapest begründet man das damit, dass man nicht die Zeit und die Kapazitäten gehabt habe, um die aufgezeichneten Telefonate rechtzeitig zu übersetzen und auszuwerten. „Es ist zur Kenntnis zu nehmen, dass diese Straftaten nicht in Ungarn, sondern im Ausland geplant, nicht von Ungarn, sondern von Ausländern begangen wurden“, meinte Innenminister Sandor Pinter etwas pikiert. „Durch Ungarn sind sie nur durchgereist.“