„Mayday“ im Cockpit: Suizid ist das Tabuthema der Luftfahrt
Hannover (dpa) - Rund 48 Stunden nach dem Absturz des deutschen Germanwings-Airbus in den französischen Alpen scheint das Unglaubliche festzustehen: Eine absichtliche Tat des Co-Piloten riss nach Erkenntnisse der Blackbox-Auswertung 150 Menschen in den Tod.
Das teilte die Staatsanwaltschaft Marseille mit. Ermittler Brice Robin vermied dabei das Tabu-Thema „Piloten-Suizid“. Doch er ließ keinen Zweifel dran: Der junge Co-Pilot hat bewusst den verhängnisvollen Sinkflug eingeleitet, nachdem er zuvor den Flugkapitän ausgesperrt hatte.
Es ist die Horrorvision der Luftfahrt, die Piloten und Passagiere in ihrem Entsetzen eint. Denn wenn der Feind von innen kommt, helfen auch die ausgefeiltesten Sicherheitssysteme nicht. „Es sind ganz besondere Situationen, die man nicht verhindern kann“, sagte der Chefredakteur des Fachmagazins Aero International, Dietmar Plath.
An Bord des Unglücksflugs 4U9525 auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf müssen sich dramatische Szenen abgespielt haben - vergleichbar mit denen, die sich einige Zeit zuvor an Afrikas Himmel ereignet haben. Dort hatte am 29. November 2013 ein Pilot auf dem Flug Maputo-Luanda über dem namibisch-angolanischen Grenzgebiet eine relativ neue Embraer 190 auf ähnliche Weise bewusst in den Boden gesteuert - 34 Menschen starben.
Eine Untersuchungskommission fand später heraus, dass der Pilot sich im Cockpit eingeschlossen und absichtlich den Absturz auslöst hatte. Auch dort trommelte der ausgesperrte Flugkapitän verzweifelt gegen die Tür, bevor der bewusst eingeleitete Sinkflug in den Tod abrupt endete.
Es sind Vorfälle, die extrem selten sind - aber allein der Gedanke lässt erschaudern. Viele Profis hielten sich am Donnerstag bewusst mit Äußerungen zurück - gerade bei den Piloten saß der Schock zu tief. Denn strenge Auswahltests und psychologische Eignungstests stellen bei den meisten Airlines eigentlich sicher, dass nur charakterlich gefestigte Kandidaten Pilot werden können.
Regelmäßige medizinische Tests und auch vertrauliche innerbetriebliche Meldesysteme sollen gewährleisten, dass auffälliges Piloten-Verhalten entdeckt wird. Wie kann es dann gerade bei einer als solide geltenden Fluggesellschaft wie der Lufthansa-Tochter Germanwings zu einer solchen Tat kommen?
Gerade zur Urlaubszeit dürfte nun bei zahlreichen Passagieren das Unwohlsein zunehmen. Denn auch wenn vergangenes Jahr weltweit 3,3 Milliarden Menschen ein Flugzeug nutzten: den Nimbus des Undurchschaubaren hat die Fliegerei bis heute nicht verloren. Anders als im Zug oder Reisebus sind in der Luft zudem Hunderte Menschen dem Können und der Zuverlässigkeit von nur zwei Personen bedingungslos ausgeliefert. Die komplexe Technik moderner Verkehrsjets erlaubt es Laien nur in Hollywood-Filme, sie wieder heil auf die Erde zu bringen.
Und wenn sich dieses eingespielte Cockpit-Team selbst nicht mehr trauen kann, wird es heikel auf den Luftstraßen dieser Welt. In den hochautomatisierten Jets gibt es ein kompliziertes Zusammenspiel von Mensch und Maschine. Die Computer korrigieren Fehler umgehend. Vor einer bewusst falschen Programmierung eines Fluges ins Verderben sind auch sie nicht gefeit.
Mit akribischer, pedantischer Gründlichkeit wird das tragische Unglück und das noch völlig unerklärliche Handeln des jungen deutschen Co-Piloten nun aufgeklärt und analysiert werden. Es ist eine Ungewissheit, die nicht nur die Hinterbliebenen der Opfer plagt, sondern auch die Industrie. Sie will begreifen, was schieflief, um entsprechende Rückschlüsse in die Verbesserung ihrer Systeme einfließen zu lassen und mögliche Schwachstellen zu beseitigen. Auch wenn in diesem Fall die Schwachstelle der Mensch selber war.