Mehr als 600 Tote in Ägypten

Kairo (dpa) - Nach den schweren Ausschreitungen in Ägypten mit mehr als 600 Toten haben die USA ihre Bürger zum Verlassen des Landes aufgerufen. Alle dort lebenden Amerikaner seien angehalten, aus dem nordafrikanischen Staat auszureisen, teilte das Außenministerium in Washington am Donnerstag mit.

Dem Land droht derweil eine neue Welle der Gewalt: Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi riefen zu neuen Protesten auf, radikale Islamisten verkündeten einen „Freitag der Wut“. Beobachter befürchten neue Ausschreitungen.

Die ägyptische Regierung korrigierte die Zahl der Toten laut übereinstimmender Medienberichte auf 638 nach oben. Verletzt worden seien 4201 Menschen. Neue Opferzahlen waren zuvor praktisch stündlich veröffentlicht worden. Der UN-Sicherheitsrat in New York wollte sich noch am späten Donnerstagabend MESZ in einer Dringlichkeitssitzung mit der angespannten Lage in dem Land befassen.

Das US-Außenministerium begründete seine Reisewarnung mit den politischen und sozialen Unruhen in Ägypten. US-Präsident Barack Obama sagte, angesichts der Geschehnisse könnten die Vereinigten Staaten ihre Beziehung zu dem Land derzeit nicht wie gewohnt weiterführen. Eine Militärübung mit den Streitkräften Ägyptens wurde abgesagt.

Mehrere westliche Staaten, darunter Deutschland, hatten zuvor die ägyptischen Botschafter einbestellt. Die EU-Außenminister wollen die Lage in dem Land voraussichtlich Anfang kommender Woche erörtern.

Außenminister Guido Westerwelle (FDP) sagte im ZDF-„heute journal“, er habe die Lage mit seinem US-Kollegen John Kerry am Telefon besprochen. Es gelte nun, das weitere Vorgehen international abzustimmen. Sein Ministerium hat bislang eine Teilreisewarnung für Ägypten erlassen und rät von Reisen in das Land ab.

Trotz der zahlreichen Opfer ging die Gewalt auch am Donnerstag weiter: Im Norden der Sinai-Halbinsel töteten mutmaßliche Extremisten fünf ägyptische Soldaten in Al-Arisch. In der Stadt starb zudem ein Polizist, als Extremisten das Feuer auf den Offiziersclub der Polizei eröffneten. Im Kairoer Stadtteil Giza stürmten mehrere Hundert Islamisten das Gebäude der Provinzverwaltung. Nach Angaben aus Sicherheitskreisen brach ein Feuer aus. In der Hauptstadt sperrten ferner etwa 3000 Islamisten die Straße vor der Al-Iman-Moschee, in der Dutzende Opfer der Gewaltexzesse vom Mittwoch aufgebahrt waren.

Das Innenministerium wies die Polizei an, ab sofort mit scharfer Munition auf Plünderer und Saboteure zu schießen. In einer Erklärung hieß es, der Anlass dafür seien „Terrorattacken der Organisation der Muslimbrüder auf verschiedene Einrichtungen von Regierung und Polizei in mehreren Provinzen“. Damit solle verhindert werden, dass öffentliche Gebäude in Brand gesetzt und Waffen aus Polizeistationen gestohlen werden. Die Regierung hatte bereits zuvor trotz massiver internationaler Kritik das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte verteidigt. In mehreren Landesteilen gilt der Notstand.

Die Islamisten wollen die Proteste gegen Mursis Absetzung auch nach den Freitagsgebeten fortsetzen. Das Nachrichtenportal youm7 berichtete, Sicherheitskräfte befürchteten eine neue Welle der Gewalt. Mursi war am 3. Juli durch das Militär gestürzt worden und befindet sich an einem geheimen Ort. Seine Untersuchungshaft wurde am Donnerstag um 30 Tage verlängert.

Die Ferienorte an der Küste des Roten Meeres blieben von Gewalt zwar bislang verschont. Im Badeort Hurghada starb allerdings ein Anhänger der Muslimbruderschaft bei Zusammenstößen. Dem Reisekonzern Tui zufolge müssen Urlauber bisher zwar kaum mit Einschränkungen rechnen, dennoch sinkt die Nachfrage nach Reisen in das Land nach Branchenangaben spürbar.

Die Angriffe der Extremisten richteten sich nicht allein gegen öffentliche Gebäude und Polizeiwachen. Auch christliche Kirchen wurden Ziel der Attacken. Aus Sicherheitskreisen hieß es, in Abanub in der Provinz Assiut sei eine koptische Kirche niedergebrannt worden. Nach Angaben der christlichen Zeitung „Watani“ attackierten die Islamisten insgesamt 35 Kirchen oder andere Einrichtungen der Kopten.