Mehrere deutsche Atommeiler vorerst abgeschaltet

Berlin (dpa) - Angesichts des drohenden GAUs in Japan reißt in Deutschland Schwarz-Gelb das Ruder noch weiter herum: Die ältesten Atomkraftwerke müssen vorübergehend vom Netz. Mindestens fünf der insgesamt acht betroffenen Kraftwerke droht dauerhaft das Aus.

Bis Mitte Mai werden wegen Sicherheits-Checks nur noch 9 von 17 Meilern Strom liefern.

„Sicherheit ist das, was in allen Betrachtungen Vorrang hat“, sagte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Dienstag nach einem Treffen mit den Ministerpräsidenten der AKW-Länder in Berlin. Bereits am Vortag hatte sie die vorübergehende Aussetzung der von ihrer Koalition beschlossenen Laufzeitverlängerung verkündet.

Die Wirtschaft warnte vor voreiligen Beschlüssen, weil sie auf die billige und zu 100 Prozent planbare Energie aus Kernkraftwerken angewiesen ist. Die Kurse der AKW-Betreiber RWE und Eon verloren mehr als vier Prozent. An der Leipziger Strombörse stiegen die Preise, weil sich Energiehändler massiv mit Strom eindecken.

SPD, Grüne, Linke und Anti-Atomorganisationen stuften die Entscheidung der Bundesregierung und der Unionsländer als Täuschungsmanöver ein. Sie verlangen das endgültige Aus für die sieben ältesten Atomkraftwerke.

Die vorübergehende Abschaltung betrifft die sieben vor 1980 gebauten AKW Neckarwestheim I, Philippsburg I (Baden-Württemberg), Biblis A und B (Hessen), Isar I (Bayern), Unterweser (Niedersachsen) und das ohnehin stillstehende AKW Brunsbüttel (Schleswig-Holstein). Zudem bleibt als achter Meiler das 1983 ans Netz gegangene und nach Pannen abgeschaltete AKW Krümmel in Schleswig-Holstein vom Netz getrennt.

Die AKW gingen bereits am Dienstag nach und nach vom Netz. Neckarwestheim I, Isar I, Biblis A sowie wahrscheinlich die beiden stillstehenden Anlagen in Schleswig-Holstein sollen nach dem Willen der zuständigen Länder dauerhaft abgeschaltet werden.

Die Kanzlerin will an diesem Donnerstag vor dem Bundestag eine Regierungserklärung zur Lage in Japan abgeben. Dabei dürften auch die Entscheidungen zur deutschen Atomkraft eine wichtige Rolle spielen. Die SPD kündigte an, sie wolle im Parlament namentlich über einen Antrag zur Aufhebung der Laufzeitverlängerung und eine dauerhafte Abschaltung der sieben ältesten Atomkraftwerke abstimmen lassen.

Merkel sagte nach dem Treffen im Kanzleramt, während der zunächst dreimonatigen Abschaltung werde die Sicherheit der Anlagen geprüft. Wegen des Umfangs seien die Überprüfungen am besten in einer Nichtbetriebsphase zu machen. Der Ausbau erneuerbarer Energien solle forciert werden. Während dieser Phase wird die erst im Herbst beschlossene Laufzeitverlängerung ausgesetzt.

Die vorübergehende Abschaltung der sieben Meiler wird rechtlich als „staatliche Anordnung aus Sicherheitsgründen“ umgesetzt. Bund und Länder berufen sich auf eine Notsituation nach Paragraf 19, Absatz 3, Ziffer 3 des seit 1. Januar 2011 geltenden reformierten Atomgesetzes, wie Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) erläuterte.

SPD-Chef Sigmar Gabriel kritisierte dieses Manöver: „Das ist der Gefahrenabwehr-Paragraf des Atomgesetzes. Entweder hat Frau Merkel also im Herbst 2010 bei der Entscheidung zur Laufzeitverlängerung unmittelbar drohende Gefahren ignoriert oder übersehen. Dann wäre die Frage: Welche? Bis gestern war jedenfalls der lauteste Ruf der CDU: Alt ist nicht gleich unsicher.“

Merkel will sich am kommenden Dienstag erneut mit den Ministerpräsidenten treffen, um weitere Details zur Zukunft der Atomkraft zu klären. In weiteren Treffen werde es darum gehen, die Energiewende hin zu erneuerbaren Quellen zu forcieren: Atomkraft hatte zuletzt einen Anteil von 23 Prozent an der Stromerzeugung, Kohle 43 und Ökoenergien etwas über 16 Prozent. Die Kanzlerin sprach mit Blick auf die Atomkrise in Japan von einer „Zäsur in der Geschichte der technisierten Welt“. Dies sei Anlass, die Kernkraft unabhängig vom Wahlkampf zu überprüfen. Röttgen kündigte eine grundlegende Neubewertung der Atomsicherheit in Deutschland an.

Die Unionsfraktion warb um Unterstützung der Opposition. „Wir sollten jetzt eine Basis definieren, wie wir in den nächsten Wochen gemeinsam einen Konsens herstellen können“, sagte ihr Fraktionsgeschäftsführer Peter Altmaier im Sender N-TV.

Die Grünen zeigten sich trotz aller Kritik gesprächsbereit. Sie wollen aber über einen noch schnelleren Atomausstieg reden, als von Rot-Grün ursprünglich vorgesehen, machte Vizefraktionschefin Bärbel Höhn in der gleichen Sendung deutlich.

Für die FDP ergibt sich schon aus Wirtschaftlichkeitsüberlegungen, dass von den abgeschalteten AKW einige nicht mehr ans Netz gehen werden. Das ergebe sich aus den zusätzlichen Sicherheitsauflagen, sagte Generalsekretär Christian Lindner.

Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) sagte, mit den Entscheidungen „haben wir die richtigen Antworten gegeben auf die Zäsur, die durch Japan zweifelsohne entstanden ist“. Bayerns Umweltminister Markus Söder (CSU) bekräftigte, die Landesregierung wolle den umstrittenen Meiler Isar I endgültig abschalten.

Der Energiekonzern RWE kündigte an, er wolle den ältesten deutschen Atommeiler Biblis A in Hessen kurzfristig vom Netz nehmen. Nach Einschätzung von Landesumweltministerin Lucia Puttrich (CDU) wird er wahrscheinlich auch nach einer Sicherheitsüberprüfung abgeschaltet bleiben. Biblis B steht seit Ende Februar wegen einer Revision ohenhin still.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) betonte, es gehe bei dem Beschluss zur Abschaltung nicht um die bevorstehende Landtagswahl am 27. März: „Ich mache keine Kehrtwende“. Im Landtag kündigte er die endgültige Stilllegung von Neckarwestheim I an. Der Meiler soll am Wochenende vom Netz gehen. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) sagte, in seinem Land seien zwei der drei Reaktoren abgeschaltet und es werde keiner wieder ans Netz gehen, der nicht sicher sei.

Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) wies darauf hin, dass sich die Abschaltungen auf die Energie-Preise auswirken würden. Auch der Chef des größten deutschen Versorgers Eon, Johannes Teyssen, äußerte sich im ZDF-„heute journal„ dahingehend. An der Leipziger Energiebörse EEX deckten sich die Händler vorsorglich mit Strom ein. Der Preis für einen Terminkontrakt zur Stromlieferung 2012 stieg dadurch bereits von 55 auf teilweise 58,45 Euro je Megawattstunde. Dies müsse aber nicht zwangsläufig komplett auf die Verbraucher umgelegt werden, sagte ein Sprecher des Verbraucherportals Verivox.de der Nachrichtenagentur dpa.

Grünen-Fraktionschefin Renate Künast sprach angesichts der nur vorübergehenden Abschaltung von „Wahlkampf pur“ und forderte die Rücknahme der Laufzeitverlängerung. Linken-Vorsitzende Gesine Lötzsch nannte die Beschlüsse ein billiges Ablenkungsmanöver. Die Umweltorganisation Greenpeace vermutete Mauscheleien mit den Stromkonzernen, um die wegen Japan gerade ungünstige Situation zu überbrücken. Der Sprecher der Organisation „ausgestrahlt“, Jochen Stay, kündigte für den 26. März Anti-Atom-Massenproteste an.