Merkels Atom-GAU: Was will die Regierung nun tun?

Berlin (dpa) - In den Zentralen der Energiekonzerne Eon, RWE, EnBW und Vattenfall herrscht am Montag große Hektik. Die Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima ist - das weiß man hier - auch eine Zäsur für die deutsche Atompolitik.

Was vor dem 11. März undenkbar schien, wird am Abend Realität: In den Atomländern Bayern und Baden-Württemberg beordern Union und FDP Atomkraftwerke vom Netz. Die Konzerne müssen bangen, dass weitere ihrer „Gelddruckmaschinen“ früher vom Netz müssen - immerhin lässt sich mit einem abgeschriebenen Meiler etwa eine Million Euro pro Tag verdienen. „Die Energiepolitik beginnt jetzt von Grund auf neu“, sagt EU-Energiekommissar Günther Oettinger.

Was will die Regierung nun?

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) stoppt für drei Monate die Laufzeitverlängerung um durchschnittlich 12 Jahre - wohl auch um bei den Landtagswahlen am 27. März im Atomland Baden-Württemberg ein Fiasko für die CDU zu vermeiden. Aber vor allem hat Fukushima das unkalkulierbare Restrisiko selbst in hoch technologisierten Ländern wie Japan auf dramatische Weise vor Augen geführt. Jeder Meiler soll nun individuell einem Sicherheitscheck unterzogen und seine Laufzeit neu bewertet werden. Umweltminister Norbert Röttgen betont: „Jede Verlängerung der Laufzeiten ist eine Verlängerung des Restrisikos“. Dies sei auch das Eingeständnis einer gescheiterten Politik, sagt die Opposition.

Was bedeutet das für die Atomkraftwerke?

Wenn Merkel die 11. und 12. Novelle des Atomgesetzes aussetzt, ist klar, dass das EnBW-Atomkraftwerk Neckarwestheim 1 vom Netz muss. Es liefert seit 1976 Strom und sollte bis 2019 laufen. Es muss aber nun den Betrieb einstellen, weil es ohne das neue Atomgesetz mit den längeren Laufzeiten keine Reststrommengen mehr hat, die es noch produzieren darf. Röttgen betont, er gehe davon aus, dass einmal vom Netz gegangene Akw nach dem Moratorium nicht wieder ans Netz gehen. Denn in einem solchen Fall erlischt eigentlich automatisch die Betriebsgenehmigung. Bayerns Umweltminister Markus Söder (CSU) will zudem das ebenfalls wegen Sicherheitsfragen in der Kritik stehende Eon-Akw Isar 1 abschalten. Es war 1977 ans Netz gegangen. Eine dritte Abschaltung ist demnächst beim RWE-Meiler Biblis A möglich, es wird aber erst einmal nur für eine Revision vom Netz genommen.

Wie reagieren die Konzerne?

Sie haben in der jetzigen Situation wenig zu melden. Nach den Telefonschalten mit den Konzernbossen beim Atomgipfel im Herbst 2010 und dem umstrittenen Atom-Vertrag heißt es nun in Regierungskreisen: „Angesichts der Geschehnisse in Japan gilt jetzt nur noch eins: Das Primat der Politik.“ Merkel will mit den fünf Ministerpräsidenten mit Atomstandorten erörtern, wie es nun konkret weitergeht - die Konzerne können nicht auf Kompromisse hoffen. Der 14. März 2011 könnte das Ende der Atomkraft in Deutschland eingeläutet haben. Denn Merkel sagt, nach dem Moratorium werde nichts mehr wie vor dem Moratorium sein, die Regierung will möglichst rasch raus aus der Atomkraft.

Braucht Deutschland überhaupt noch so viele Atomkraftwerke?

In Koalitionskreisen heißt es, man könne ohne Probleme auf mindestens drei Atomkraftwerke verzichten, ohne eine Stromlücke zu haben. Nicht zu vergessen: Seit 2007 stehen Krümmel und Brunsbüttel fast ununterbrochen still, daher gibt es seit fast vier Jahren de facto nur noch 15 Meiler, die zuletzt 23 Prozent des Stroms produzierten. Kohle hat noch einen Anteil von 43 Prozent, die Ökoenergien liegen bei mehr als 16 Prozent.

Ab wann könnte es ganz ohne Atomkraft gehen?

Ab 2020, sagt Dietmar Schütz, Präsident des Bundesverbandes Erneuerbare Energie. Die erneuerbaren Energien könnten bis dahin 47 Prozent des Strombedarfs bereitstellen. Umweltminister Röttgen hatte selbst betont, dass auf Atomkraft verzichtet werden kann, wenn rund 40 Prozent des Stroms aus Ökoenergien produziert werden. „Die Versorgungssicherheit ist auch bei einem hohen Anteil erneuerbarer Energien zu keiner Zeit gefährdet“, sagt Schütz. Deutschland würde mit einem Atomausstieg nicht zum Stromimporteur. Allerdings fehlen bis zu 3600 Kilometer neuer Stromautobahnen, um etwa immer mehr Windstrom zu den Verbrauchern zu bringen.

Was passiert mit den Reststrommengen abgeschalteter Akw?

Mit der Laufzeitverlängerung wurde den sieben bis 1980 ans Netz gegangenen Akw eine noch zu produzierende Strommenge zugestanden, die acht Jahren entspricht, die zehn anderen Reaktoren bekamen 14 Jahre mehr. Damit würden selbst Anlagen wie der schleswig-holsteinische Pannenreaktor Krümmel 50 Jahre laufen. Der letzte Meiler, der die Tür zu machen würde für die Atomkraft in Deutschland, ist bisher Neckarwestheim 2, der bis mindestens 2036 laufen soll. Wenn die Betreiber ältere Anlagen früher vom Netz nehmen, zum Beispiel weil ihnen die Nachrüstkosten zu hoch sind, können sie deren Restrommengen auf neuere Anlagen übertragen. Die SPD fordert, dass beim Abschalten älterer Anlagen deren Reststrommengen verfallen. Sonst würden weniger Reaktoren, aber dafür weit über das Jahr 2040 hinaus, weiterlaufen.

Was passiert mit den Milliardenzahlungen der Konzerne?

Das ist unklar. Die Atomsteuer mit Abgaben von 2,3 Milliarden Euro pro Jahr hatten sie nur geschluckt, weil es die Laufzeitverlängerung gab. Bei weniger Atomkraftwerken gibt es auch weniger Geld für Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), da jedes Brennelement besteuert wird und die Akw-Betreiber nun eine statt drei Millionen kostet. Je nach Bauart sind in einem Meiler knapp 200 Brennelemente. Zudem gibt es ohne längere Laufzeiten keine Milliardenzahlungen für den Fonds zum Ausbau erneuerbarer Energien, weil die Aussetzung de facto ein Bruch des von der Opposition als „Atom-Deal“ beschimpften Vertrags mit den Konzernen ist.

Sind die deutschen Meiler insgesamt noch sicher?

Eigentlich ja. Ein Trafobrand, Schnellabschaltungen nach Kurzschlüssen, fehlende Dübel oder nicht ausreichende Flutbehälter für das Not- und Nachkühlsystems waren die bisher größten Zwischenfälle. 2004 gelangten 30 000 Liter kontaminiertes Wasser in den Rhein, weil in Philippsburg 1 (Baden-Württemberg) eine Pumpe bei der Überprüfung am Schnellabschaltsystem nicht abgestellt wurde. Für die hier zu erwartenden Erdbeben sind die Meiler ausgelegt.

Was ist mit den Nachrüstungen?

Alle Atomkraftwerke bekamen eine Laufzeitverlängerung, obwohl schon unter SPD und Grünen als „Gegenleistung“ für den Atomausstieg nur noch absolut erforderliche Nachrüstungen verlangt worden waren. Ein von Rot-Grün erarbeitetes neues kerntechnisches Regelwerk, das dem heutigen Stand entspricht und hohe Investitionen in Nachrüstungen erforderlich machen würde, wurde von Röttgen nicht umgesetzt. Er steht in der Kritik, den Konzernen bei der Sicherheit zu sehr entgegen zu kommen. In seinem Ministerium war 2010 eine Nachrüstliste erstellt worden, die auch einen Schutz der Reaktoren gegen den Absturz großer Flugzeuge vorsah. Doch die Liste verschwand in der Schublade, das ganze hätte sich auf 50 Milliarden Euro belaufen - derzeit werden die konkreten Maßnahmen verhandelt.

Was sagt die Opposition?

Sie traut dem Ganzen noch nicht so recht. „Wir werden jetzt schauen, wie ernst es Teile der Bundesregierung mit dem Nachdenken über die Atomkraft nehmen“, sagt Grünen-Fraktionsvize Bärbel Höhn. Eine entscheidende Frage für die Grünen ist dabei, ob der frühere Eon-Manager Gerald Hennenhöfer als Abteilungsleiter Reaktorsicherheit im Umweltministerium der richtige Mensch für die anstehenden Überprüfungen der deutschen Atomkraftwerke ist.