Analyse Merkels Traum und Seehofers Glaubwürdigkeitstest

Berlin (dpa) - Sie machen sich die Welt, wie sie ihnen gefällt - jedenfalls im Wahlprogramm. Es hört sich ein bisschen nach Pippi Langstrumpf an, wenn Angela Merkel über die Erarbeitung des Unionsprogramms für die Bundestagswahl spricht: „Hier können Sie einfach noch einmal ein bisschen träumen.“

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Eben so ganz ohne Koalitionszwang von schönen Verbesserungen für Familien, Steuerzahler, Arbeitslose, Polizisten, Mieter, Eigentümer und noch viele andere. Ohne auf SPD, FDP oder womöglich einmal die Grünen mit ihren Vorstellungen Rücksicht nehmen zu müssen.

„Wann können Sie das schon mal machen?“, fragt die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende. „Irgendwann hat man eine Koalitionsvereinbarung, wenn alles gut läuft, und dann ist man in vielem eingepackter in einem Korsett.“ Jetzt musste sie sich nur mit der Schwesterpartei und deren Chef Horst Seehofer einigen. Das „nur“ ist allerdings relativ.

Merkel und Seehofer, die alten Weggefährten, haben eine harte Strecke mit Streit und Vertrauensbruch in der Flüchtlingspolitik zurückgelegt. Merkel scheint bis heute nicht gewillt, das wegzulächeln. Wann immer Seehofer sie lobt - das tut er oft an diesem Tag - verzieht sie keine Miene oder macht die typische Merkel-Schnute. Als es um das Thema Flüchtlinge, Migration und damit zusammenhängend um das „Fachkräftezuwanderungsgesetz“ geht, flüstert Seehofer ihr etwas zu, und Merkel beeilt sich immerhin zu sagen: „Ja, wir stimmen völlig überein.“

Als der „bayerische Löwe“, wie sich der Ministerpräsident auch gern nennt, von „blindem Vertrauen“ zur Kanzlerin spricht, reagiert diese aber eher unbeholfen. „Was das blinde Vertrauen anbelangt, so ist das ja nicht so nach dem Motto: Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn. Sondern das meint ja, dass wir sehr vertrauensvoll und ohne jede Friktion zusammengearbeitet haben.“ Ach so. Wer ist nun das blinde Huhn und was ist das Korn?

So kurz vor der Wahl soll aber Frieden herrschen. Unbedingt. Seehofer hat in den vergangenen Monaten auch viel erreicht. Das Asylrecht wurde drastisch verschärft, die Zahl der neuankommenden Flüchtlinge ist im Vergleich zum Jahr 2015, dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise in Deutschland, deutlich zurückgegangen. Und Merkel beteuert: „Das Jahr 2015 soll sich in der Tat nicht wiederholen.“

Für Seehofer ist das das lang ersehnte Eingeständnis, dass sie Fehler gemacht hat. Fast scheint es so, dass er jetzt nicht mehr eine Obergrenze für Flüchtlinge in einem nächsten Koalitionsvertrag zur Bedingung machen und die CSU notfalls in die Opposition schicken will. Das könnte aber natürlich auch ganz eigennützige Gründe haben.

Im nächsten Jahr ist in Bayern Landtagswahl. Und die Verteidigung der absoluten Mehrheit ist das vielleicht größte und wichtigste Ziel für Seehofer überhaupt. „Ich möchte nicht, dass wir im Herbst 2018 mit Zweifeln an der Umsetzbarkeit der Wahlversprechen konfrontiert werden.“ Für ihn geht es jetzt um einen „Glaubwürdigkeitstest“. Da wäre es wohl blöd, wenn die CSU sich im Falle eines Wahlsieges der Union nicht an einer Regierung im Bund beteiligen würde, weil er sich nicht gegen Merkel durchsetzen konnte.

Nun behaupten beide, wie viel Spaß sie bei der Arbeit an dem gemeinsamen Programm gehabt hätten. Es soll Steuerentlastungen von 15 Milliarden Euro geben, mehr Kindergeld, mehr Stellen für Polizisten, weniger Arbeitslose, der Solidaritätszuschlag soll abgebaut werden. Wohlstand für alle eben. „Das war eine Zusammenarbeit, die hat Freude gemacht“, betont Merkel. Und: „So ein Regierungsprogramm aufzuschreiben, ist ja auch interessant. (...) Wenn man Freiräume hat, wen entlastet man, wie investiert man, wo setzt man die Schwerpunkte. Und: „Ich habe immer Lust auf Zukunft.“

Dabei haben Merkel und Seehofer gerade bei den Steuerentlastungen vieles im Vagen gelassen. Beispielsweise, wann der Soli für alle tatsächlich auslaufen soll. Oder wann der Kinderfreibetrag endgültig an den Erwachsenenfreibetrag im Steuerrecht angeglichen werden soll. Dahinter dürfte auch die CSU-Überlegung stehen, dass für ihre Lieblingsprojekte wie zum Beispiel die Mütterrente sicherheitshalber doch noch Geld übrig sein soll. Da dürften nicht jetzt schon alle Milliarden-Überschüsse verplant werden. Und auch das Ziel der Vollbeschäftigung legt die Union gleich mal in die übernächste Wahlperiode, sicher ist sicher.

Seehofer bemüht sich um einen ernsten Gesichtsausdruck und muss dann doch gleich schmunzeln: „Jetzt ohne Ironie: Ich habe mich auf jeden Termin gefreut.“ Es mache auch keinen Sinn, „abstrakte Diskussionen“ zu führen. „Wir müssen ja wieder miteinander reden können.“ Und dabei soll es dann wohl nicht so zugehen wie in der Villa Kunterbunt.