Mitten im Flüchtlingsdrama: Anklage gegen Berlusconi

Rom (dpa) - Tausende Tunesier sind auf Lampedusa gestrandet, die Bewohner der kleinen Insel fühlen sich wie auf einem Pulverfass. Die Regierung in Rom verlangt europäische Hilfe. Doch Ministerpräsident Berlusconi hat andere Sorgen: Ihm drohen 15 Jahre Gefängnis.

Die kleine Insel südlich von Sizilien wird zum Pulverfass, unter den Insulanern geht Furcht um angesichts der riesigen Flüchtlingswelle aus dem Unruheland Tunesien. Auch wenn der Strom zwischendurch mal versiegt, sind viele Bewohner ängstlich und aufgebracht. Wieder einmal fühlen sie sich von „denen da oben“ in Rom alleingelassen mit der Flut fremder Menschen, die im Hafen aus ihren Booten steigen.

Für den stark angeschlagenen Regierungschef Silvio Berlusconi bieten diese Folgen der tunesischen Revolution allerdings auch eine winzige Chance: bedrängt von Prozessterminen und mit einer sehr wackligen Mehrheit regierend, kann sich der Cavaliere aktiv zeigen - gerade in der europäischen Politik. Doch das reicht nicht aus, um vom anstehenden Prozesstermin in der Sexaffäre um „Ruby“ abzulenken.

Nur 800 Flüchtlinge passen in das erst nach Tagen des Ansturms wieder geöffnete Aufnahmelager Lampedusa, 2000 sind dort derzeit eingepfercht. „Es reicht, wenn dort ein Betrunkener und ein Hitzkopf aneinander geraten, und wir laufen Gefahr, dass es zu einer Art Bürgerkrieg kommt, Tunesier gegen Sizilianer.“ Dieses Horrorszenario malt der Kommandant der personell knapp besetzten Carabinieri, Kapitän De Tommaso, im Gespräch mit der Turiner Tageszeitung „La Stampa“ an die Wand. Übertrieben? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jedenfalls ist es den Bars und Supermärkten des 20-Quadratkilometer-Eilands jetzt verboten worden, den Ankömmlingen aus Tunesien Alkohol zu verkaufen.

„Norditaliener hätte man nicht so alleingelassen wie uns“, regt sich der Besitzer der Hafenbar, Massimo Tuccio, auf. Er nennt die Flüchtlinge ironisch mal Marokkaner, mal Türken, „und wir haben Angst um unsere Frauen und Kinder.“ Bei hitzigen Debatten in den Kneipen der 4500-Seelen-Insel kommt wie selbstverständlich auch zur Sprache, was neben dem Flüchtlingsdrama da tief unten im Süden seit Wochen den italienischen Blätterwald prall füllt: „Sie baggern in Rom unsere Mädchen an, und dies hier bleibt dann an uns hängen, eine Schande ist das.“ Das Wort „Schande“ war in den Wochen zuvor reserviert für die angeblichen wüsten Sexpartys mit Minderjährigen in Berlusconis Villa.

Während ganz Italien mehr darauf anspringt, dass der 74-jährige Berlusconi im Sog der Affäre um die junge Marokkanerin Ruby bald vor einem Gericht erscheinen muss, tut sein Innenminister Roberto Maroni nichts, um die Ängste angesichts der unerwarteten Migrantenwelle zu zerstreuen. Im Gegenteil, der Mann der ausländerfeindlichen Lega Nord rechnet hoch, dass 80 000 Menschen vom südlichen Saum des Mittelmeeres Italien überschwemmen könnten - falls die tunesischen Boote weiterhin mit der Schlagzahl der vergangenen Woche ankämen. Die Mitte-Rechts-Regierung ist erprobt darin, Wahlen mit Sicherheitsparolen zu gewinnen, und die Regierungskrise am Tiber könnte schon bald auch zu Neuwahlen führen.

Also ruft Berlusconi den EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy an, schildert ihm die desolate Lage auf dem kleinen Stück Italien mitten im Mittelmeer - und verlangt gesamteuropäisches Vorgehen gegen diesen Notstand. Zu diesem Zeitpunkt strandeten bereits erste Boote mit Menschen aus dem Revolutionsland Ägypten an den Küsten Siziliens. Van Rompuy beeilte sich, das brennende Problem so rasch wie möglich von den Staats- und Regierungschefs der EU angehen zu lassen. Europa hat den demokratischen Frühling in Nordafrika vielstimmig begrüßt, mit den erheblichen Nebenwirkungen aber offensichtlich nicht gerechnet.